Vor einer Woche hatten die Franzosen Material zu Stiefel und Leinwand erhalten und ließen sich von Gefangenen Stiefel und Hemden anfertigen.
»Fertig, mein Falke!« rief Karatajew. Der Wärme und der Bequemlichkeit bei der Arbeit wegen trug Karatajew nur Beinkleider und ein kohlschwarzes Hemd. Die Haare hatte er mit einem Bindfaden über der Stirn zusammengebunden, und sein rundes Gesicht erschien noch runder und niedlicher. Lachend hielt er ein fertiges Hemd in die Höhe.
Der Franzose blickte sich unruhig um, dann schien er plötzlich seine Unschlüssigkeit überwunden zu haben, warf hastig die Uniform ab und legte das Hemd an. Unter seiner Uniform hatte der Franzose kein Hemd und trug auf dem bloßen, hageren, gelben Körper eine lange, schmutzige, seidene Weste mit Blumenstickerei. Er fürchtete deshalb ausgelacht zu werden und steckte hastig den Kopf in das Hemd, aber niemand sprach ein Wort.
»Siehst du, das sitzt vortrefflich«, sagte Karatajew, indem er das Hemd betrachtete. »Das ist hier keine Schneiderwerkstatt und richtiges Werkzeug gibt es hier auch nicht. Was sagt das russische Sprichwort? Ohne Gerät kann man keine Laus totschlagen.«
»Gut, gut, danke! Aber wo ist die Leinwand, die übrigblieb?« sagte der Franzose.
»Es wird noch weiter werden, wenn du es auf dem Leibe hast«, sagte Karatajew, indem er noch immer sein Werk bewunderte.
»Ich danke sehr, aber wo sind die Reste?« wiederholte der Franzose lachend, indem er Karatajew ein Stück Papiergeld reichte. »Gib die Reste her!«
Peter sah, daß Karatajew nicht verstehen wollte, was der Franzose sagte, und sah zu, ohne sich einzumischen. Karatajew dankte für das Geld und rühmte noch immer seine Arbeit, aber der Franzose bestand auf den Resten, und bat Peter, zu übersetzen, was er sagte.
»Wozu braucht er die Reste?« sagte Karatajew. »Wir könnten sie gut brauchen zu Fußlappen. Nun, meinetwegen!« Und mit betrübter Miene nahm Karatajew ein Knäuel von Abschnitzeln aus der Brusttasche und reichte sie dem Franzosen.
Der Franzose sah die Leinwand an, überlegte und blickte fragend Peter an. »Karatajew!« rief er plötzlich errötend mit kreischender Stimme.
»Nimm das!« sagte er, reichte ihm die Reste, wandte sich um und ging.
»Sieh doch«, sagte Karatajew; den Kopf wiegend, »man sagt, sie seien Heiden, aber sie haben doch eine Seele!«
226
Vier Wochen waren vergangen, seitdem Peter in der Gefangenschaft war. Man hatte ihm angeboten, ihn in die Offiziersbaracke zu versetzen, aber er wollte bleiben, wo er war.
In dem zerstörten und verbrannten Moskau hatte Peter Entbehrungen fast bis zur äußersten Grenze durchgemacht, aber dank seiner kräftigen Gesundheit, die er bisher nicht zu schätzen wußte, ertrug er alles mit Leichtigkeit, und erst in dieser Zeit gewann er jene Ruhe und Zufriedenheit mit sich selbst, nach der er früher vergebens gestrebt hatte, und die er früher auf den verschiedensten Wegen, in der Philanthropie, in der Freimaurerei, in den Zerstreuung des Weltlebens, im Weine, im Heroismus der Selbstaufopferung, in seiner romantischen Liebe zu Natalie vergebens gesucht hatte. Die schrecklichen Augenblicke, die er bei der Hinrichtung durchlebt hatte, hatten alle ihm früher wichtig erschienenen Gefühle und Erinnerungen abgewaschen. Er dachte nicht mehr an Rußland, an den Krieg, an die Politik, und seine Absicht. Napoleon zu töten, erschien ihm jetzt sogar lächerlich. Auch sein Groll gegen seine Frau und die Sorge, daß sie seinen Namen beschimpfen werde, erschienen ihm jetzt nichtig.
Nun erinnerte er sich oft an sein Gespräch mit Fürst Andree, der behauptete, das Unglück sei nur negativ und das in uns gelegte Streben nach dem Glück sei uns nur deshalb verliehen, um durch seine Nichtbefriedigung uns zu quälen. Ohne Rückhalt erkannte Peter die Richtigkeit dessen an. Die Befreiung von allen Leiden, die Befriedigung der Bedürfnisse, gute Nahrung und Reinlichkeit und demzufolge auch die Freiheit, sich eine Beschäftigung, eine Lebensweise selbst zu wählen, erschienen Peter als das höchste Glück des Menschen, besonders jetzt, wo er das alles entbehrte. Er vergaß, daß der Überfluß der Annehmlichkeiten des Lebens alles Glück, das die Befriedigung der Bedürfnisse gewährt, vernichtet, und daß ebenso die Freiheit, sich seine Beschäftigung selbst zu wählen – dieselbe Freiheit, die ihm die Bildung, der Reichtum, die Stellung in der Welt verliehen –, das Bedürfnis selbst und die Möglichkeit einer Beschäftigung vernichten.
Jetzt richteten sich alle seine Gedanken auf jenen Augenblick, in dem er frei sein werde. Später aber dachte er sein ganzes Leben lang mit Entzücken an diese Monate der Gefangenschaft zurück, an die vollkommene geistige Ruhe und innere Freiheit, die er in jener Zeit empfand.
227
In der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober begann die Bewegung der abmarschierenden Franzosen. Küchen und Baracken wurden abgebrochen. Fuhren wurden beladen, Truppen und Wagen setzten sich in Bewegung. Um sieben Uhr morgens erschien eine Abteilung Infanterie in Feldausrüstung, mit Tschako, Gewehren, Tornistern und großen Brotbeuteln vor der Baracke, und durch die ganze Linie lief ein lebhaftes, geräuschvolles französisches Schwatzen, mit Schimpfworten untermischt.
In der Baracke waren alle bereit und angekleidet und erwarteten nur den Befehl, hinauszugehen. Der kranke Soldat Sokolow, mit bleichem, hagerem Gesicht und blauen Ringen um die Augen, lag allein noch unangekleidet auf seiner Stelle und blickte mit starren Augen fragend nach den Genossen, die sich nicht um ihn kümmerten. Er stöhnte leise, augenscheinlich weniger aus Schmerz – er litt am Blutsturz – als aus Angst, allein zurückzubleiben.
Peter trug Schuhe, die ihm Karatajew verfertigt hatte, und war mit einem Strick umgürtet. Er setzte sich neben den Kranken.
»Nun, Sokolow, sie werden wohl nicht ganz und gar abziehen. Sie haben da ein Hospital, vielleicht ist es noch besser als die unsrigen«, sagte Peter.
»O, das ist mein Tod«, stöhnte der Soldat.
»Ich werde mich erkundigen«, sagte Peter und ging zur Tür. In demselben Augenblick trat der Korporal, der Peter die Pfeife angeboten hatte, mit zwei Soldaten ein; er hatte Befehl, die Tür zu schließen und die Gefangenen abzuzählen.
»Korporal, was wird mit diesem Kranken geschehen?« begann Peter, aber in demselben Augenblick ertönte von zwei Seiten Trommelwirbel. Der Korporal stieß mit finsterer Miene einige Schimpfworte aus und schlug die Tür zu. In der Baracke wurde es halb dunkel.
»Da ist es wieder«, dachte Peter. In dem veränderten Benehmen des Korporals, in dem betäubenden Trommelwirbel hatte Peter jene geheimnisvolle, teilnahmlose Gewalt erkannt, welche die Menschen veranlaßte, gegen ihren Willen ihresgleichen zu töten. Es war jetzt nichts zu machen, als geduldig zu warten. Peter ging nicht mehr zu dem Kranken und blickte ihn auch nicht mehr an, sondern blieb schweigend und mit finsterer Miene an der Tür stehen.
Als die Tür geöffnet wurde, drängte sich Peter durch die Gefangenen hinaus und ging auf den Kapitän zu, der nach der Versicherung des Korporals bereit war, für Peter alles zu tun. Auch der Kapitän trug Feldausrüstung, und aus seinem kalten Gesicht blickte auch jenes »Etwas« hervor, das Peter in den Worten des Korporals und in dem Trommelwirbel erkannt hatte.
»Schert euch hinaus«, sagte der Kapitän, mit finsterer Miene nach den sich herausdrängenden Gefangenen blickend. Peter wußte, daß sein Versuch vergeblich sein werde, aber er trat dennoch auf den Kapitän zu.
»Nun, was gibt’s?« fragte der Offizier. Peter sprach von dem Kranken.
»Er geht mit! Zum Teufel!« sagte der Kapitän.
»Aber er ist am Sterben«, begann Peter.
»Marsch! Zum Teufel!« schrie der Kapitän zornig. Tram–da–da–dam–