Unten vor der letzten Stufe wartete Ric auf ihn, zog ihn nicht etwa zur Haustür, sondern zerrte ihn um die Treppe herum an der Kellertür vorbei zur Hoftür, stieß sie auf, warf einen raschen Blick durch den engen Hof, hastete an der Hauswand entlang und fand eine zweite Tür. Gleich darauf standen sie in einem anderen Hauseingang; Ric schob den Riegel von innen vor.
Frank lehnte sich keuchend gegen die Wand. Sein Kopf sank auf die Brust, und es schien so, als wollte er zusammensinken. Es wurde ihm schwarz vor den Augen.
»Komm jetzt, bloß nicht schlappmachen!« Ric zerrte ihn am Arm vorwärts auf die Kellertür zu, fand sie verschlossen und warf einen Blick in den Hausgang.
»Los, wir müssen die Treppe hinauf.«
»Aber ich kann nicht mehr.«
»Wir müssen!«
»Ja, ich weiß, du hast einen Mann erschossen. Wir müssen…«
»Red keinen Blödsinn, der ist doch nicht tot. Hat bloß einen Denkzettel bekommen. Diese Ratte wird es sich in Zukunft überlegen, mit dem Gummiknüppel auf friedliche Bürger loszugehen.«
In diesem Augenblick wurde im Parterre eine Tür geöffnet. Eine Frau hüstelte. Gedankenschnell zog Ric den Riegel der Hoftür zurück und zerrte den Vetter noch einmal mit hinaus in den Hof. Die Frau kam, wie er richtig vermutet hatte, zur Kellertür, schloß sie auf und ging hinunter.
Augenblicklich waren Ric und Frank wieder im Haus. Ric schob den Riegel zum Hof zu, öffnete die Kellertür und stieg mit Frank die feuchtklebrigen, steilen Stufen hinunter.
Der Keller war sehr groß und weitverzweigt; die beiden preßten sich im Dunkel unter die Kellertreppe.
Hinten irgendwo hörten sie die Frau an einem Schloß herumhantieren. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zurückkam. Sie war vielleicht dreißig, hatte Lockenwickler im Haar, war busenlos und hatte dazu völlig unpassend einen unförmig schweren Unterkörper. Als sie bis zu der Treppe gekommen war, schnellte Ric vorwärts, warf sie nieder, preßte ihr die Hand auf den Mund, riß ihr einen Streifen aus der Schürze, schob ihn ihr zwischen die Zähne und sicherte ihn mit dem Rest der Schürze. Dann zerfetzte er ihren Rock und band ihr die Hände auf dem Rücken zusammen.
»Komm, Mary«, flüsterte er und schleppte sie zurück durch den Kellergang, drückte sie auf den Boden und band ihr da mit einem weiteren Stoffetzen auch die Füße zusammen.
»Sie werden keinen Laut von sich geben!« zischelte er ihr zu, »sonst sterben Sie.«
Die Frau lag steif wie ein Brett am Boden. Vor Schreck vermochte sie kein Glied zu rühren.
Den Mann erkennen konnte sie auch nicht, da das Dreiminutenlicht längst erloschen war.
Dillinger ging zurück, sah Frank an der Kellertreppe stehen und deutete zur Treppe.
»Los, geh.«
Als sie den Flur erreicht hatten, schloß Ric die Kellertür ab, lauschte in den Hausgang, winkte dem anderen und ging um die Treppe herum auf die Wohnungstür zu, aus der die Frau gekommen war. Er nahm den Schlüsselbund und probierte einen Schlüssel nach dem anderen. Der dritte paßte. Die Tür sprang auf.
Ric trat ein, zerrte den widerstrebenden Vetter hinter sich her und warf die Tür zu.
»Bist du wahnsinnig!« keuchte Frank. »Was soll denn das bedeuten?«
»Es bleibt uns nichts anderes übrig.«
»Aber um Himmels willen – was soll denn daraus werden?«
»Da!« meinte Ric und deutete mit dem Kopf nach draußen.
Der scharfe Ton einer Polizeisirene war zu hören.
Die beiden traten von der Tür zurück und blieben hinten im Dunkel des kurzen Korridors stehen.
Es dauerte nur anderthalb Minuten, und dann waren auch hier im Hausgang harte, schnelle Schritte zu hören. Zwei Männer eilten die Treppe hinauf, ein dritter kam an die Wohnungstür. Die beiden konnten seine Konturen durch das Ornamentglas in der Wohnungstür erkennen.
Der Mann läutete.
»Keine Bewegung«, raunte Ric dem Vetter zu.
Frank hatte den Mund offenstehen und die Augen weit aufgerissen. Er sah aus, als würde ihn jeden Augenblick der Schlag treffen.
Ric stieß ihn unsanft an.
Da stürzte Frank nach vorn und stolperte über seine schwere Tasche.
Ric stieß ihn derb zurück und warf seinen Mantel hinter sich auf einen Hocker, zog auch die Jacke aus, öffnete die Krawatte weit, verstrubbelte sich das Haar und lief zur Tür. Er öffnete einen Spalt und blickte den Polizisten, der draußen stand, aus plinkernden Augen an.
»Was gibt’s denn? Ich bin schwer erkältet. Wir kaufen nichts… Ah, Polizei?«
»Ja«, sagte der Mann draußen. »Es ist nur eine Frage, Mister: Wir suchen zwei Männer, die im Nachbarhaus eine Frau überfallen und einen Mann niedergeschossen haben.«
»Ich habe nichts gehört«, schnarrte Ric und schüttelte noch einmal den Kopf.
Der Polizist entschuldigte sich und ging zur Hoftür.
Ric, der unweit der wieder geschlossenen Wohnungstür stehengeblieben war, beobachtete, daß er zurückkam und zur Haustür ging. Gleich darauf ertönte ein Quietschen der Angeln, und die Tür vorn zur Straße fiel ins Schloß.
Ric lehnte sich gegen die Wand, wischte sich über sein feucht gewordenes Gesicht und sah zu Frank hinüber, der immer noch drüben neben seiner schweren Vertretertasche am Boden kauerte.
»Ein Glück«, flüsterte Ric, »daß hier gegenüber nicht noch eine Wohnung ist. Dann hätte er nämlich dort auch geläutet, und die Alte drüben hätte mich dann höchstwahrscheinlich ziemlich verwundert angesehen.«
Es dauerte eine Weile, und dann waren die Schritte der Polizisten auf der Treppe wieder zu hören. Es wurde still im Korridor. Die Polizei hatte das Haus verlassen.
»Laß uns um Himmels willen auch verschwinden«, krächzte Frank, der sich aufgerichtet und seine Tasche vom Boden aufnahm.
»Wie stellst du dir das vor? Die Polente ist noch auf der Straße.«
»Aber wir können doch nicht hierbleiben. Die Frau kann jeden Augenblick gefunden werden.«
»Das müssen wir riskieren.«
»Bist du wahnsinnig! Ich gehe jetzt.«
»Du bleibst!«
Frank blickte den Vetter aus dem Westen mit ängstlichen Augen an. Er hatte plötzlich Angst bekommen vor diesem Mann, der da so plötzlich bei ihm aufgetaucht war und ihn in Sekundenschnelle in eine wahre Hölle gerissen hatte. Angst war etwas, das Frank Dillinger bis zu dieser Stunde eigentlich gar nicht gekannt hatte. Es sei denn die Angst um seine Existenz. Aber auch daran konnte man sich gewöhnen, und im Laufe von dreizehn Jahren hatte man das längst getan. Wenn es einem nicht gelungen war, aus dem Elend, aus der Armut herauszusteigen und endlich einmal auf einen grünen Zweig zu kommen, dann blieb man eben in dem Loch, in der Klemme, in der man steckte, verweilte darin, gewöhnte sich an die graue Umgebung und machte sich auch über die Zukunft keine Sorgen mehr. Sie existierten ja alle weiter, nannten es Leben und quälten sich durch die Jahre. Es war ein Elend in dieser Stadt. Millionen Menschen gab es hier; sicher war mehr als die Hälfte mittelarm, und Hunderte verendeten täglich im Rinnstein der Slums. Das Verbrechen nahm überhand, und die Gangs regierten. Die Polizei war nahezu machtlos. Erst waren es kleine Verbrecherbanden, dann perfekte große organisierte Gangs – und schließlich kam Al Capone. Er baute ein wahres Verbrecherimperium auf, hatte Dutzende von Konzernen unter seiner Fuchtel, beherrschte riesige Betriebe, eine Zeitung, eine Anzahl