Da bemerkte er auf einmal Steinstufen vor sich, die zum Damm hinaufführten. Er stieg hinauf und sah weit drüben im Osten die Scheinwerfer eines Wagens.
Da also war die Straße. Er blieb noch eine Weile auf dem Schienenstrang, lief stolpernd über den Schotter und verließ den Damm erst, als er wieder Stufen fand, die auf der anderen Seite hinunterführten.
Unten blieb er ein Stück auf dem schmalen Pfad und bog dann in einen Feldweg ein, der nach Osten hinüberführte. Der Weg war naß und voller Pfützen; er zog sich mitten durch nachtschwarze Felder der Straße entgegen.
*
Als Suzan Tunney die Augen wieder aufschlug, blickte sie in das Gesicht eines Mannes.
Es war ein markantes männliches Gesicht, das von einem blauen Augenpaar beherrscht wurde.
Diese Augen waren von einem dichten Kranz langer schwarzer Wimpern umgeben und lagen unter hohen Brauenbögen. Der Mann hatte helles Haar, das kurz geschnitten war.
Es war etwas Zwingendes in diesen Augen und hielt den Angstschrei, der von ihren Lippen kommen wollte, in ihrer Kehle zurück.
Dennoch sprang die Angst sie wieder an, als sie sich ihrer Lage plötzlich bewußt wurde. Sie lehnte zusammengesunken in der Abteilecke, sah über sich das bläulich schimmernde, zitternde Licht an der Decke, drüben das Koffernetz, die gewölbte Abteildecke und vor sich den Mann.
Was war geschehen?
Da öffneten sich die Lippen des Mannes, und sie sah eine ebenmäßig gewachsene perlweiße Zahnreihe blitzen.
»Na, geht’s wieder besser?« Seine Stimme hatte einen sonoren Klang, der ihr durch und durch ging. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und griff sich dann mt der Linken an die schmerzende Stirn.
Der Fremde hatte sich aufgerichtet und stand jetzt vor ihr.
Suzan blickte verstohlen unter der Hand zu ihm auf.
Mein Gott, das war ja ein Riese!
Er trug einen graubraunen Trenchcoat, und in der linken Hand hielt er seinen Hut.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, »daß ich hereingekommen bin. Ich kam durch den Gang und sah Sie so merkwürdig zusammengesunken hier liegen. Als ich dann den Blutfaden in Ihrem linken Mundwinkel entdeckte, bin ich nähergetreten.«
»Was ist – passiert?« stammelte die Frau.
»Ich weiß es ja nicht. Überlegen Sie mal, ob Sie es nicht vielleicht selbst wissen? Saßen Sie die ganze Zeit allein hier?«
Da kam die Erinnerung plötzlich wieder wie ein böses Phantom. Jäher Schreck ließ sie hochzucken. Sie wich bis zum Fenster zurück, preßte die Hände gegen die kühle Scheibe und starrte den Fremden aus weit geöffneten Augen an.
»Ein Mann«, stotterte sie, »kleiner als Sie, schmaler, mit einem hageren Gesicht und grauen Augen. Er kam plötzlich herein und – er stürzte sich auf mich. Dann weiß ich nichts mehr.«
Der Fremde warf einen forschenden Blick durchs Abteil.
»Haben Sie keine Handtasche?«
Suzan blickte auf den Platz neben sich und zuckte zusammen.
»Um Himmels willen! Sie ist verschwunden!«
»Ist das Ihr Koffer da oben?«
Sie nickte.
»Darf ich ihn herunterholen?«
Wieder nickte sie.
Der Fremde nahm den schweren Koffer aus dem Gepäcknetz, als wäre er gewichtslos, und stellte ihn neben sie hin.
»Vielleicht sollten Sie einen Blick hineinwerfen.«
»Ich habe den Schlüssel nicht bei mir. Aber warten Sie. Ich glaube, meine Tante hat ihn gar nicht abgeschlossen.«
Da beugte sich der Mann nieder, griff nach den Schloßkappen und ließ sie hochspringen.
Suzan hob mit zitternder Hand den Deckel, griff nach ihrem roten Pullover, der obenauf lag, hob die Wäschestücke an, betastete den Schuhbeutel und schüttelte dann den Kopf. Langsam ließ sie den Deckel zurückgleiten.
»Es ist alles da.«
Da schloß der Mann den Koffer, nahm ihn in die Rechte und ging zur Tür.
»Kommen Sie mit, rasch.«
Suzan Tunney folgte ihm, ohne zu überlegen. Es war etwas so Zwingendes in seinem Blick und auch in seiner Stimme, das keine Ablehnung in ihr aufkommen ließ. Sie folgte ihm auf den Gang. Er machte ein paar Schritte vorwärts, blieb dann an dem Abteil stehen, in dem der Geistliche saß und öffnete die Tür.
»Entschuldigen Sie bitte, würden Sie der Dame einen Augenblick Gesellschaft leisten? Sie ist ein Abteil weiter überfallen und beraubt worden.«
Der neunundsechzigjährige Thomas Alberts erhob sich sofort, nickte bereitwillig und deutete auf die Sitze ihm gegenüber.
»Aber selbstverständlich. Bitte, nehmen Sie Platz, meine Dame.«
Der Fremde schob den Koffer über Suzan ins Gepäcknetz und fragte sie dann:
»Wissen Sie, was er anhatte?«
»Ich glaube, einen karierten Mantel. Aber ich kann es nicht sicher sagen.«
»Trug er einen Hut?«
Suzan schüttelte den Kopf.
Schon war der Fremde draußen.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis er wieder auftauchte.
»Im hinteren Teil des Zuges ist er nicht. Ich werde jetzt die beiden vorderen Waggons absuchen.«
Aber auch da fand er keinen Mann, auf den die Beschreibung gepaßt hätte. Er kam ins Abteil zurück, nahm seinen Hut ab und ließ sich neben Suzan nieder.
Mein Name ist Ness. Ich bin von der Polizei. Wenn Sie in irgendeiner Weise meine Hilfe brauchen sollten: hier ist meine Telefonnummer. Ich nehme an, Sie wollen doch nach Chicago?«
Suzan Tunney nickte.
»Ja, ich wohne da.«
»Ihre Fahrkarte ist natürlich auch weg?«
Sie schüttelte den Kopf und öffnete die linke Hand. Halb zerdrückt kam ihr Ticket zum Vorschein.
»Ein Glück«, meinte er, »aber wir hätten Sie auch so durch die Kontrolle gebracht. – Vielleicht können Sie sich noch an weitere Einzelheiten erinnern? Könnten Sie sagen, wie groß der Mann war?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht einsachtzig?«
»War er kräftig oder eher schlank?«
»Schwach sah er nicht aus. Aber ich möchte doch sagen, daß er sehr schlank war. Der karierte Mantel ließ ihn breiter erscheinen, als er wahrscheinlich war. Sein Gesicht war sehr hager und – es tut mir leid, aber ich kann mich wirklich an nichts weiter erinnern. Es ging alles so furchtbar schnell.«
»Tun Sie mir einen Gefallen, Miß…«
»Tunney, Mrs. Suzan Tunney.«
»Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, Mrs. Tunney, dann bleiben Sie wenigstens noch fünf Minuten, nachdem der Zug angekommen ist, hier im Abteil.«
»Aber ist das nicht gefährlich?«
»Keineswegs. Ich möchte nämlich den Herrn hier bitten, ebenfalls so lange bei Ihnen auszuharren.«
»Aber selbstverständlich. Ich bleibe auf jeden Fall bei ihr«, erklärte der Geistliche, dessen Stimme leise zitterte.
»Was haben Sie vor?« fragte