»Das ist es. Ich wünsche mir, dass Ihr das Gefängnis verlasst und nicht mehr wiederkommt.«
Matthew wusste nicht, was er erwartet hatte, aber diese Bitte tat ihm weh und war so überraschend wie eine plötzliche Ohrfeige.
Rachel musterte ihn. Als er nicht antwortete, sagte sie: »Es ist mehr als ein Wunsch; es ist ein Befehl. Ich will, dass Ihr diesen Ort vergesst. Ich sagte es ja schon: Lebt Euer Leben.« Noch immer brachte er kein Wort heraus. Rachel kam näher an die Gitterstäbe heran und berührte seine Hand, mit der er einen der Stäbe umklammerte. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir glaubt«, sagte sie, ihr Gesicht dicht vor seinem. »Danke, dass Ihr mir zugehört habt. Aber nun ist alles vorbei. Bitte begreift das, und akzeptiert es.«
Matthew fand seine Stimme wieder, die ihm allerdings kaum gehorchen wollte. »Wie kann ich mein Leben leben, wenn ich weiß, dass ein solches Unrecht geschieht?«
Sie lächelte schwach. Ein Hauch von Zynismus schien darin zu liegen. »Unrecht geschieht überall, jeden Tag. Es gehört zum Leben. Wenn Ihr das nicht wisst, seid Ihr wesentlich weniger welterfahren, als ich dachte.« Sie seufzte und senkte die Hand. »Geht, Matthew. Ihr habt Euer Bestes getan.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Habt Ihr doch. Wenn Ihr von mir eine Art Befreiung von irgendeiner imaginären Verpflichtung braucht, bitte.« Rachel wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. »Ihr seid befreit.«
»Ich kann hier nicht einfach so rausgehen«, sagte er.
»Euch bleibt keine andere Wahl.« Sie musterte ihn erneut. »Geht. Lasst mich in Ruhe.« Sie drehte sich um und ging zurück auf ihre Bank.
»Ich gebe nicht auf«, sagte Matthew. »Auch wenn Ihr es tut. Aber ich schwöre, dass ich nicht aufgeben werde.«
Rachel setzte sich und beugte sich zu ihrem Wassereimer vor. Mit der Hand schöpfte sie etwas Wasser und führte es an den Mund.
»Ich werde nicht aufgeben«, wiederholte er. »Hört Ihr?« Sie zog sich die Kapuze über den Kopf, verhüllte damit wieder ihr Gesicht, und zog sich hinter die inneren Mauern ihrer Einsamkeit zurück.
Matthew wurde klar, dass er hier stehenbleiben konnte, so lange wie er wollte, aber Rachel hatte sich in eine innere Sphäre zurückgezogen, zu der nur sie Zutritt hatte. Er vermutete, dass sie dieser innere Rückzug – und vielleicht die Erinnerungen an glücklichere Zeiten – davor bewahrt hatte, im Laufe ihrer Gefangenschaft den Verstand zu verlieren. Ihm wurde schmerzhaft bewusst, dass ihr seine Anwesenheit nicht mehr willkommen war. Sie wollte von ihrem inneren Zwiegespräch mit dem Tod nicht abgelenkt werden.
Es war tatsächlich an der Zeit, sie zu verlassen. Und doch zögerte er, betrachtete ihre bewegungslose Gestalt. Er hoffte, dass sie noch etwas zu ihm sagen würde, aber sie blieb still. Schließlich ging er zur Tür. Rachel regte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber ihm fehlten die Worte. Es schien kein passendes Abschiedswort zu geben. Er ging nach draußen ins grausame Sonnenlicht.
Der Geruch von verkohltem Holz stieg ihm schon gleich darauf in die Nase, und er blieb vor der schwarzen Ruine stehen. Es wies kaum noch etwas darauf hin, dass dort jemals eine Schule gestanden hatte: Alle vier Wände waren verbrannt und das Dach eingestürzt. Er fragte sich, ob irgendwo in dem Schutt wohl der Drahthenkel eines Eimers lag.
Matthew war nahe daran gewesen, Rachel von seinen Entdeckungen der letzten Nacht zu erzählen. Aber im letzten Moment hatte er sich aus dem gleichen Grund dagegen entschieden, aus dem er auch Bidwell nichts davon gesagt hatte: Noch war das Geheimnis am besten bei ihm selbst aufgehoben. Er brauchte eine Antwort darauf, aus welchem Grund Winston dieses teuflische Feuer aus Charles Town kommen ließ und damit Bidwells Traum in Brand setzte. Und er brauchte von Winston mehr Informationen über diesen angeblichen Landvermesser, der nach Fount Royal gekommen war – sofern Winston denn mehr über ihn wusste. Daher war seine Mission an diesem Morgen klar: Er musste Edward Winston finden.
Den ersten Bürger, den er auf der Straße sah – einen Pfeife rauchenden Bauern, der einen Korb voller gelbem Getreide trug –, fragte er, wo Winstons Haus zu finden war, und hörte, dass es sich in der Harmoniestraße kurz vor dem Friedhof befand. Flotten Schrittes machte Matthew sich auf, das Haus zu erreichen.
Das Gebäude war nur einen Steinwurf von der ersten Reihe Grabsteine entfernt. Matthew fiel auf, dass die Fensterläden geschlossen waren, was darauf hinwies, dass Winston nicht zuhause war. Es war kein großes Haus. Vermutlich gab es nur zwei oder drei Räume. Irgendwann war es weiß angestrichen gewesen, aber die Tünche hatte sich an vielen Stellen gelöst, sodass die Wände wie gesprenkelt aussahen. Matthew fand, dass Winstons Zuhause im Gegensatz zu Bidwells Herrenhaus und einigen der gutgebauten Bauernhöfe derselbe Hauch von nachlässiger Vergänglichkeit umgab, der im Sklavenquartier zu finden war. Matthew ging den Weg zum Haus hoch, der aus Sand und zermahlenen Austernschalen bestand, und klopfte laut an die Tür.
Lange musste er nicht warten. »Wer ist da?«, ertönte Winstons Stimme, die etwas rau und nuschelig klang.
»Matthew Corbett. Dürfte ich ein Wörtchen mit Euch sprechen?«
»Worüber?« Jetzt wurde deutlich, dass Winston sich bemühte, seinen offenbar etwas angeheiterten Zustand zu vertuschen. »Über die Hexe?«
»Nein, Sir. Über einen Landvermesser, der vor vier Jahren hier gewesen war.« Stille. »Mr. Bidwell hat mir gesagt, dass Ihr dem Mann die Stadt gezeigt habt«, fuhr Matthew fort. »Ich wüsste gern, an was Ihr Euch noch erinnern könnt.«
»Ich … kann mich an einen solchen Mann nicht erinnern. Entschuldigt mich jetzt … ich muss mich dem Verwaltungsbuch widmen.«
Matthew bezweifelte stark, dass Winston sich irgendetwas anderem als alkoholischen Getränken und der Planung weiterer Brandstiftungen widmete. »Ich habe Neuigkeiten über Rachel Howarth. Möchtet Ihr das Urteil des Richters sehen? Ich habe es ihr gerade vorgelesen.«
Das Geräusch eines Riegels ertönte fast im gleichen Augenblick. Die Tür öffnete sich eine Handbreit, gerade genug, dass ein Streifen Sonnenlicht hineinfallen und Winstons verhärmtes, unrasiertes Gesicht beleuchten konnte. »Das Urteil?«, fragte er und blinzelte. »Habt Ihr es dabei?«
»Habe ich.« Matthew hielt die zusammengerollte Urkunde hoch. »Darf ich eintreten?«
Winston zögerte, aber Matthew wusste, dass er sich bereits entschieden hatte. Die Tür öffnete sich weit genug, dass Matthew eintreten konnte, und schloss sich dann mit einem Klicken.
Auf einem Tisch aus Korbgeflecht im Eingangsbereich brannten zwei Kerzen. Vor der Bank, auf der Winston anscheinend bis eben gesessen hatte, standen neben den Kerzen eine plumpe blaue Flasche und ein hölzerner Krug. Bis jetzt hatte Matthew Winston für ein Musterbeispiel der Effizienz und Ordnung gehalten, da er immer so adrett gekleidet war und perfekte Manieren zeigte. Doch nun änderte sich seine Meinung grundlegend.
Das Zimmer hätte ein Schwein zum Erbrechen bringen können. Der Boden war mit wild verstreuten Hemden, Strümpfen und Hosen bestreut, da Winston offenbar zu faul war, sie wegzulegen. Der Geruch von feuchtem und muffigem Stoff und ungewaschenem Körper war alles andere als einladend. Zusammengeknülltes Papier, Tabakbrösel, ein paar zerbrochene Tonpfeifen, Bücher, deren Einband entzweigegangen war, und diverse andere Sachen, die nicht mehr zu gebrauchen waren, aber nicht den Weg in den Abfall gefunden hatten, lagen zwischen der Kleidung. Selbst die schmale kleine Feuerstelle erstickte fast in kalter Asche und Müll. Im Grunde war das gesamte Zimmer ein einziger Abfallhaufen. Matthew erschauderte bei dem Gedanken, was wohl in Winstons Schlafzimmer versteckt sein mochte. Ein Eimer voller Pech und Schwefel war vermutlich noch das geringste Übel.
Der Schreibtisch, den Winston ihnen für die Verhandlung geliehen hatte, stand unweit von Matthew entfernt. Nun begriff er, warum das Pult äußerst sauber gewesen war, als Winston es ins Gefängnis gebracht hatte: Die Oberfläche war jetzt ein einziges Durcheinander aus zerknülltem, mit Tinte beflecktem Papier, diversen zu Stummeln geschmolzenen Kerzen und einem unordentlichen Stapel von Verwaltungsbüchern. Matthew fragte