Matthews Vorhaben war, die Stelle zu suchen, an der Chapel auf dem Boden gelegen hatte, und sich dort in den Wald zu schlagen. Als er die Stelle markiert und den Weg in Richtung rotglühenden Herbstwald verlassen hatte, merkte er, dass er sich besser auf sein Vorhaben konzentrieren sollte – denn seine Gedanken schwelgten in ähnlich edlen Tagträumen wie Gemälde in Goldrahmen.
Zwischen den Bäumen schlug er sich ins Gebüsch. Die gesamte Gegend war natürlich bereits abgesucht worden, aber er fragte sich dennoch, ob es nicht irgendwo im Wald eine Stelle geben konnte, die den Suchern entgangen war. Ein Versteck, das ähnlich getarnt war wie die Kassette als Buch. Einen Zufluchtsort für den Notfall, von dem aus sich die Geflüchteten entweder durchs Tor oder – bei Dahlgren angesichts seines gebrochenen Handgelenks eher unwahrscheinlich – über die Mauer davonstehlen konnten, wenn die Gefahr vorbei war.
Es war eine wilde Vermutung, aber Matthew war entschlossen, sie zu überprüfen.
Diesmal gab es kein Rennen um sein und Berrys Leben, sondern es war friedlich im Wald. Außer Bäumen und dem auf leicht hügeligen Grund wachsenden niedrigem Gebüsch sah er nichts. Er begann, Laub beiseitezutreten und nach Falltüren im Boden zu suchen, ohne etwas zu finden.
Vor ihm war eine kleine Schlucht. Matthew erinnerte sich, wie er mit Berry oben am Rand entlanggerannt war. Jetzt blieb er stehen und spähte hinunter. Es ging vielleicht dreieinhalb Meter in die Tiefe, und an den Seiten häuften sich scharfe Felsbrocken. Ihm fuhr die Frage durch den Kopf, was passiert wäre, wenn er oder Berry dort hinuntergefallen wären. Ein gebrochenes Fußgelenk wäre das Mindeste gewesen.
Während Matthew in die Klamm starrte, fragte er sich, ob die Sucher vielleicht auch um ihre Knochen gebangt hatten und nicht hinabgestiegen waren. Aber es gab dort unten nichts außer Felsbrocken. Es war eine ganz normale Schlucht, wie sie man in jedem Wald finden konnte.
Er ging weiter oben am Rand entlang, jetzt von seinen Tagträumen um den Geldbeutel befreit. Er konzentrierte sich auf die Schlucht, besonders auf die Frage, wie man dort hinunterkam, ohne von den Felsen abzustürzen.
Je weiter er in den Wald hineinging, desto tiefer wurde der Einschnitt. Ziemlich tief bis nach unten, dachte Matthew. Hie und da füllten dunkle Schatten die Klamm wie einen schwarzen Teich. Und dann, gar nicht mehr weit, entdeckte er eine Stelle in den Felsen, die man fast wie eine Treppe benutzen konnte. Bildete er sich das nur ein? Möglich, aber dort konnte er ganz sicher nach unten gelangen. Den Geldbeutel fest umklammernd entdeckte er, dass man die Stufen heil hinunterkam, selbst wenn man sich nur mit einer Hand an den Felsen festhalten konnte.
In der Tiefe angekommen, folgte er der steinigen Schlucht. Etwa zwanzig Schritt weiter wand sie sich nach rechts und Matthew schnappte nach Luft. Neben ihm tat sich eine Öffnung in der Wand auf, die breit genug war, dass ein Mann sich seitlich hineinzwängen konnte.
Eine Höhle, erkannte er und atmete wieder aus.
Er bückte sich und schaute hinein. Es war unmöglich zu sagen, wie groß sie war. Nichts als Dunkelheit war zu sehen. Und doch spürte er das leichte Fächeln einer Brise auf seinem Gesicht. Das bisschen, was er vom Boden der Höhle sehen konnte, bestand aus festem, mit Blättern übersätem Lehm.
Er griff mit seiner freien Hand in die Öffnung und fühlte, wie ein Luftzug von irgendwo aus der Höhle über seine Fingerspitzen strich.
Das ist keine Höhle, dachte er. Sondern ein Tunnel.
Er hatte keine Laterne dabei. Vielleicht gab es dort drinnen Schlangen, ein ganzes Nest davon. Er fragte sich, was Greathouse in dieser Situation tun würde. Den Rückzug antreten und nie die Wahrheit herausfinden? Oder wie ein Tölpel einfach auf gut Glück hineingehen?
Schlangen würden ihn zumindest nicht durch seine Stiefel beißen können. Wenn er in ein Loch treten und hinfallen würde, könnten sie sein Gesicht angreifen. Er würde einfach so vorsichtig gehen, als balancierte er mit verbundenen Augen über das Rathausdach. Für einen Moment zögerte er, sammelte seinen Mut, bevor der wieder Vernunft annahm und sich verflüchtigte. Dann biss er die Zähne zusammen, zwängte sich durch den Felsspalt und konnte in dem Hohlraum sofort stehen, wenn auch nur gebückt. Er war froh, immer noch den Geldbeutel in der Hand zu haben – notfalls konnte er jemandem einen damit über den Schädel geben. Ich bin reich, wurde ihm so durchdringend bewusst, dass seine Beine fast nachgaben. Er spürte, wie sein Mund sich trotz seines trommelnden Herzens und des Angstschweißes in seinem Nacken zu einem Lachen verzog. Er hoffte inständig, die nächsten Minuten zu überleben, damit er sich an seinem Reichtum noch etwas erfreuen konnte. Mit der freien Hand und dem Ellbogen tastete Matthew sich langsam ins Unbekannte vor.
Kapitel 6
»Es ist wirklich zu schade, das mit Matthew Corbett. So jung gestorben«, sagte Hudson Greathouse. Er zuckte die Achseln. »Ich habe ihn gar nicht so gut gekannt. Erst seit Juli habe ich mit ihm zusammengearbeitet. Ich kann also nur sagen, dass er mit seiner Neugierde einmal zu oft im Finstern herumgestöbert hat.«
Der Wagen hatte soeben den Stall in Westerwicke verlassen und wurde von zwei Gäulen mit Senkrücken so langsam, aber ehrwürdig gezogen, wie es alten Pferden mit Senkrücken gebührte. Die Stadt lag an der Philadelphia-Straße ungefähr dreißig Meilen vor New York: Ein kleiner, aber gepflegter Ort mit zwei Kirchen, aus Holz und Ziegeln gebauten Häusern, hinter denen sich den Wäldern von New Jersey abgerungene Felder und Obstgärten erstreckten. Ein Bauer winkte, der von seinem Karren Kürbisse verkaufte, und Greathouse winkte zurück.
»Ja«, meinte Greathouse und sah zu den Wolken hoch, die wie große weiße Schiffe über den Morgenhimmel segelten, »es ist schade um Matthew. Dass sein Leben so kurz war, weil es ihm sowohl an Verstand als auch an einem Leibwächter fehlte, der ihn hätte beschützen können.« Er sah den Kutscher von der Seite an. »Wäre das die richtige Rede für Eure Beerdigung?«
»Ich habe doch schon zugegeben«, erwiderte Matthew und klatschte den Pferden die Zügel auf die Rücken, um sie anzutreiben, woraufhin sie jedoch nur die Köpfe tiefer hängen ließen, als würden sie um Gnade bitten, »dass ich nicht allein in den Tunnel hätte gehen sollen.« Er spürte, dass er rot geworden war. »Wie lange wollt Ihr noch darauf herumreiten?«
»So lange, bis Ihr begreift, dass Ihr nicht so weit seid, strohdumm Euer Leben aufs Spiel zu setzen. Und für was? Um etwas zu beweisen? Dass Ihr so viel klüger als alle anderen seid?«
»Es ist noch schrecklich früh am Tag für solche Predigten.« Es war kurz nach sechs. Matthew war müde und schlecht gelaunt und wünschte sich, überall außer hier neben Greathouse auf dem Kutschbock zu sitzen. Herr im Himmel, lieber würde er sogar noch mal in den Tunnel gehen. Wenigstens hatte dort Stille geherrscht. Jetzt wusste er, was Folter war: Sich wie letzte Nacht in Westerwicke mit Greathouse im Gasthaus The Constant Friend ein Zimmer zu teilen, weil die zwei anderen Zimmer vermietet waren, und nicht einschlafen zu können, bevor das Schnarchen wie Kanonenschläge begann und als Katzenschrei aufhörte. Lange nach Mitternacht, als Matthew endlich eingeschlafen war, hatte Greathouse einen Schrei ausgestoßen, der Matthew fast aus Angst um sein Leben aus der Bettwäsche fahren ließ. Aber selbst das daraufhin folgende Klopfen an der Wand von ihrem verärgerten Zimmernachbarn hatte Greathouse nicht aus seinem Schlummer gerissen. Schlimmer war jedoch, dass der große Mann die Sache mit dem Tunnel nicht auf sich beruhen ließ: Dies war gefährlich, das war gefährlich, und was alles hätte passieren können, wenn es nicht ein unter dem Landsitz zum Fluss führender Tunnel gewesen wäre. Was, wenn es stattdessen eine verzweigte Höhle gewesen wäre, in deren Dunkelheit er sich verirren und darin hätte herumwandern können, bis ihm der Bart bis an die Schuhe reichte? Und was dann, Mr. Corbett? Sprecht bitte etwas lauter, ich kann Euch nicht hören.
»Ihr habt recht«, meinte Greathouse nach kurzem Nachdenken, während Matthew sich bereits