Nichtsdestotrotz war es sein Hauptverdächtiger. Im Nu hatte er die Trittleiter hinübergetragen, war hochgestiegen und hielt das Buch in der Hand. Es fühlte sich erstaunlich leicht an.
Auf dem abgeschabten braunen Ledereinband stand Solomons kleiner Schlüssel.
Als Matthew es aufschlug, entdeckte er, dass es tatsächlich einmal ein Buch gewesen war, die Seiten aber mit einer rasiermesserscharfen Klinge ausgehöhlt worden waren. Im Hohlraum lag vermutlich nicht Solomons kleiner Schlüssel, sondern Chapels großer. Matthew verspürte plötzlich eine aufgeregte Freude, die sich vielleicht als Siegesgefühl bezeichnen ließ. Er nahm den Schlüssel heraus, klappte das Buch zu und stellte es wieder an seinen Platz. Dann stieg er von der Leiter.
Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, merkte er, dass sein Herz so wild wie eine Irokesentrommel hämmerte. Was mochte nur in der Kassette sein? Ein Dokument, das Professor Fell gehörte? Etwas, das auf seinen Aufenthaltsort schließen ließ? Wenn ja, dann musste es wohl in Stein gemeißelt sein.
Er drehte den Schlüssel um. Das leise Klick hörte sich so höflich an, wie es sich für das Schloss eines Gentleman geziemte. Matthew öffnete den Deckel.
Es kann sein, dass Fell mittlerweile kurz vor dem Erreichen seines Ziels steht, hatte Greathouse ihm erzählt. Ein Verbrecherreich aufzubauen, das die Kontinente überspannt. Die vielen kleinen Haie, die in ihren eigenen Meeren tödlich genug sind, haben sich um diesen einen großen Hai geschart und sind nun hierhergeschwommen …
Matthew sah einen schwarzledernen Beutel, der mit einer Schnur zugebunden war. Etwas anderes befand sich nicht in der Kassette. Der Knoten der Schnur war mit einem Stück Papier versiegelt, auf dem ein roter Stempel prangte.
Der große Haifisch, dachte Matthew. Greathouses Fischmetapher war der Wahrheit nahe gekommen, stimmte aber nicht: Der Siegelstempel in rotem Wachs stellte einen stilisierten Kraken dar, dessen acht Arme ausgestreckt waren, als wollte er die ganze Welt mit ihnen packen.
Matthew nahm an, dass Greathouse sich sehr dafür interessieren würde. Er hob den schweren Beutel aus der Kassette, um ihn auf den Schreibtisch zu legen, und hörte den unverwechselbaren Klang klimpernder Münzen.
Er legte seinen Fund nieder und starrte ihn einen Moment lang an. Um den Beutel zu öffnen, würde er das Siegel brechen müssen. War er dazu bereit? So ganz sicher war er sich nicht. Irgendetwas jagte ihm Angst ein, die Art von Angst, aus der Albträume entstanden. Es war besser, Greathouse das Siegel brechen zu lassen und nichts weiter damit zu tun zu haben.
Aber er legte den Beutel nicht in die Kassette zurück. Er tat überhaupt nichts, als sich mit dem Handrücken über den Mund zu fahren. Denn seine Lippen waren plötzlich wie ausgetrocknet.
Er wusste, dass er eine Entscheidung treffen musste, und zwar eine wichtige. Die Minuten tickten spürbar dahin. Nie hatte sich die Entfernung zwischen diesem Haus und seinem Leben in New York größer angefühlt.
Er fürchtete sich nicht nur davor, das Siegel zu brechen, sondern auch davor, den Beutel zu öffnen. Gab es denn niemanden, der ihm sagen konnte, was er tun sollte? Der ihm raten konnte, was falsch und was richtig war? Wo waren die Stimmen von Richter Woodward und Richter Powers, wenn er sie brauchte? Nicht zu hören. Nichts als Stille. Aber es war doch bloß Papier, oder? Nur der Umriss eines Kraken auf einem Stempel? Und das lag ja bereits so lange in der Kassette. Es kam niemand mehr, um den Beutel zu holen. Keiner dachte mehr daran.
Er sagte sich, dass er Greathouses Hilfe nicht brauchte. Immerhin war er ihm in der Herrald Vermittlung gleichgestellt. Er hatte Katherine Herralds Brief sowie eine Lupe erhalten, die es bewiesen.
Ohne sich noch mehr Zeit zum Nachdenken zu geben, brach er das Siegel. Der wächserne Krake zerbrach und öffnete sich ihm. Dann löste er die Schnur und spähte in den Lederbeutel. Seine Augen wurden groß, als die Sonne durch die Fenster der Bibliothek auf das Gold schien und ihn fast blendete.
Er nahm eine der Münzen in die Hand und untersuchte sie genauer. Auf der einen Seite prangten die Köpfe von William und Mary, auf der anderen ein Schild und darüber eine Krone. 1692, sagte das Datum. Matthew versuchte das Gewicht der Münze zu schätzen. Er hatte in seinem ganzen Leben nur zwei dieser Münzen gesehen, beide aus seiner Zeit als Nathaniel Powers‘ Gerichtsdiener. Nach einem Raubüberfall war ein Teil des Geldes bei einem Pelzhändler sichergestellt worden. Die Münze in Matthews Hand war ein Fünfguinee-Stück, ein paar Schilling mehr als fünf Pfund wert – die wertvollste Münze des britischen Königreichs. Und in dem Beutel waren … wie viele davon? All das Gold glänzte so, dass es schwer zu zählen war. Er schüttete es auf dem Tisch aus, und als sechzehn Münzen herausfielen, erkannte er, dass er mehr als achtzig Pfund vor sich hatte.
»Mein Gott«, hörte er sich wie vor den Kopf geschlagen flüstern.
Denn er war wie vor den Kopf geschlagen. Dies waren Reichtümer – eine Geldmenge, die selbst ein Handwerksmeister in einem ganzen Jahr kaum zu verdienen vermochte. Ein junger Anwalt verdiente weniger pro Jahr, und ein junger Ermittler erst recht.
Und hier lag eine derartige Summe einfach vor ihm.
Matthew wurde schwindelig. Er starrte auf die Trümmer der Bibliothek, dann wieder auf das Wandbrett, auf dem die Kassette für alle Augen sichtbar versteckt gestanden hatte. Geld für den Notfall, dachte er. Das war es, was Lawrence Evans, Chapels Handlanger, aus dem Haus hatte holen wollen, als Dippen Nacks Schlagstock ihn niederstreckte. Geld für den Notfall in einem schwarzen Lederbeutel; möglicherweise dem Siegel der Unterwelt oder sogar Professor Fells persönlichem Zeichen.
Chapels Landsitz, aber Fells Unternehmen.
Achtzig Pfund. Wem sollte er die bringen? Lillehorne? Ja, ganz bestimmt – der Hauptwachtmeister und seine Frau würden selbst aus einer derartig hohen Summe Kleingeld machen. Der Mann war bereits unausstehlich, ohne dass er sich an einem von Matthew eingegangenem Risiko bereichert hatte. Denn Matthew meinte, mit seiner Rückkehr in das Haus ein Risiko eingegangen zu sein. Na gut, und Greathouse? Oh ja, Greathouse würde den Löwenanteil für sich und die Herrald Vermittlung behalten und Matthew ein kleines Häppchen davon zuwerfen. Schließlich gab es diesen Wahnwitz, Zed van Kowenhoven abzukaufen und ihn zu einem Leibwächter auszubilden, den Matthew mit Sicherheit nicht brauchte.
Wem sollte er das Geld also geben?
Dem, der es am dringendsten benötigt, dachte Matthew. Dem, der es gefunden hat. Der Prozess, es zu finden, war gut gelaufen. Und es war auch äußerst verdient. Wenn er sich vorsah, würde es lange dauern, bis er alles davon ausgegeben hatte. Aber die nächste Frage war, wie er auch nur eine einzige Münze ausgeben konnte, ohne Verdacht zu erregen. Denn Fünfguinee-Stücke sah man nur auf den edlen Höhen von Golden Hill.
Seine Hände zitterten, als er die Münzen in den Beutel zurücksteckte. Er zog die Schnur fest und verknotete sie. Dann hob er das zerrissene Papier mit dem Krakensiegel auf, zerknüllte es und warf es zu der schwarzen Asche und den verkohlten Bucheinbänden im offenen Kamin. Einen Moment lang war ihm wie im Delirium zumute und er musste mit einer Hand an der Wand Halt suchen.
Von seiner Buchauswahl nahm er ein paar mit, fast ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Sie sollten nur dazu dienen, die Satteltaschen des Pferdes gleichmäßig zu belasten.
Doch als er draußen angelangt war und die Bücher verstaut hatte, mochte Matthew sich nicht schon so bald von dem Geld trennen. Auf die Frage, wegen der er ursprünglich hergekommen war, hatte er noch immer keine Antwort. Ihm war bewusst, dass er, wenn er erst einmal durch das Tor davongeritten war, vielleicht nicht wiederkommen würde – Bücher hin oder her. Inzwischen war es bereits Nachmittag geworden und die Sonne schien kräftig durch die Bäume. Er scheute sich davor, das Geld bei Dante zu lassen, denn es konnte ja jemand vorbeikommen. Mit dem Lederbeutel in der Hand marschierte er den Weg entlang in Richtung Weinberg auf die Stelle zu, an der er Chapel