Während der große Mann die Maissuppe mit vier deftigen Löffelschlägen aufaß, wich Matthews Dunkelheit, wie sie es nach einer Weile immer tat. Sein Herz schlug wieder normal, die prickelnden Schweißtropfen trockneten und er saß ruhig mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck da. Niemand merkte je, dass man neben einem jungen Mann saßen, der spürte, wie ihm Schritt um Schritt ein grausamer Tod hinterherschlich, eine Verfolgungsjagd, die Jahre dauern mochte … oder bereits an diesem Abend mit einem Messer im Rücken auf dem Broad Way enden konnte.
»Wo seid Ihr?«
Matthew blinzelte. Greathouse schob den Suppenteller beiseite. »Ihr seid irgendwohin verschwunden«, sagte er. »Ein Irgendwohin, das ich kenne?«
»Ich habe über Zed nachgedacht«, sagte Matthew und schaffte es, überzeugend zu klingen.
»Denkt nach, soviel Ihr wollt«, kam die schnelle Antwort. »Aber ich habe die Entscheidung getroffen. Es ist absurd, dass ein Mann mit Zeds Talenten nichts anderes macht, als Leichen herumzutragen. Ich sage Euch, ich habe schon viele Sklaven gesehen – aber ein Ga ist mir dabei noch nie untergekommen, und wenn die Möglichkeit besteht, ihn McCaggers abzukaufen, könnt Ihr darauf wetten, dass ich ihm ein Angebot machen werde.«
»Und dann kümmert Ihr Euch um seinen Freibrief?«
»Genau. Wie gestern Abend schon jemand sagte, ist es für Sklaven gesetzlich verboten, ein Wirtshaus zu betreten. Was nützt uns Zed, wenn er die Orte nicht betreten darf, an denen er vielleicht gebraucht wird?« Greathouse suchte in seiner Tasche nach Geld. »Außerdem gefällt mir die Vorstellung nicht, einen Sklaven zu haben. Das verstößt gegen meine Religion. Und da es in New York mehrere freigesetzte Sklaven gibt, wie zum Beispiel den Barbier Micah Reynaud, haben wir bereits mehr als einen Präzedenzfall. Holt Euer Geld raus, ich rufe nach Evelyn.« Er hob die Hand, um der Bedienung zu signalisieren, dass sie zahlen wollten.
»Ein Präzedenzfall ist schön und gut«, stimmte Matthew ihm zu, »aber diese Sklaven wurden freigelassen, bevor Lord Cornbury kam. Ich weiß nicht, ob man ihn überzeugen kann, einen Erlass zu unterschreiben.«
»Alles der Reihe nach. Erst mal zahlen – Ihr seid doch fertig, oder?«
Matthews Zögern sprach Bände. Greathouse lehnte sich schnaufend in seinem Stuhl zurück. »Jetzt sagt mir nicht, dass Ihr pleite seid. Schon wieder.«
»Dann lasse ich es eben.« Matthew hätte fast die Schultern gezuckt, dachte aber, dass er damit riskieren würde, Greathouses Wut zu entfachen. Und ein wutentbrannter Greathouse war kein schöner Anblick.
»Ich sollte das nicht für Euch auslegen«, meinte Greathouse, als Evelyn an den Tisch kam. »Das ist jetzt schon das dritte Mal diese Woche.« Er lächelte der Bedienung verspannt zu, als er die Rechnung entgegennahm, sie überflog und ihr das Geld gab. »Danke, meine Liebe«, sagte er. »Lasst Euch keinen falschen Deut aus Holz unterjubeln.«
Sie lachte ihr Glasglockenlachen und ging sich um die anderen Gäste kümmern.
»Ihr gebt viel zu viel für Eure verdammte Garderobe aus«, empörte sich Greathouse und stand auf. »Wohin ist Euer Geld diesmal verschwunden? Steckt es in den neuen Stiefeln?«
Matthew erhob sich ebenfalls und nahm seinen Dreispitz vom Wandhaken. »Ich hatte diverse Ausgaben.« Die Stiefel musste er in vier Raten abbezahlen. Seinen neuesten Anzug hatte er halb abbezahlt und schuldete Benjamin Owles noch Geld für ein paar Hemden. Aber es waren so gute Hemden, kalkweiß und pastellblau, vorn und am Ärmelaufschlag mit Rüschen – die neueste Mode für gut situierte junge Männer.
Warum sollte ich nicht auch welche haben, dachte er, wenn ich einen guten Eindruck machen will?
»Was Ihr mit Eurem Verdienst macht, ist Eure Sache«, sagte Greathouse, als sie durch die Schänke zur Tür gingen. »Bis es anfängt, mich mein eigenes Geld zu kosten. Ich schreibe mir das alles auf, nur dass Ihr Bescheid wisst.«
Sie hatten fast die Tür erreicht, als eine Frau mittleren Alters mit dichten grauen Locken unter einem lilafarbenen Hut und einem breiten, spitznasigen Gesicht von einem der Tische aufstand, an dem sie mit zwei Damen saß, um Matthew am Ärmel zu zupfen. »Oh, Mr. Corbett! Nur ganz kurz, bitte!«
»Ja, Madam?« Er kannte Mrs. Iris Garrow. Sie war die Gattin von Stephen Garrow, dem Krämer in der Duke Street.
»Ich wollte fragen, ob Ihr mir irgendwann, wenn Ihr Zeit habt, noch eine Ohrenkneifer-Ausgabe signieren könntet? Denn Stephen hat mit meiner ersten aus Versehen eine Kakerlake totgeschlagen – wofür ich ihm eins auf die Ohren gegeben habe!«
»Gerne doch, Madam.«
»Haben Sie neue Abenteuer zu berichten?«, fragte eine der anderen Damen atemlos. Anna Whitakker war mit dem Stadtratsabgeordneten von Dock Ward verheiratet.
»Nein«, antwortete Greathouse so nachdrücklich, dass die Teetassen auf dem Tisch der Damen klirrten. Er packte Matthew am Ellbogen und schob ihn zur Tür hinaus. »Einen angenehmen Morgen noch!«
Draußen in der kühlen Brise und dem silbernen Sonnenlicht der Nassau Street sann Matthew darüber nach, dass man an einem Tag eine Berühmtheit sein und schon am nächsten die Innereien einer Kakerlake über dem eigenen Namen verschmiert haben konnte. Da trug man am besten gute Kleidung, hielt den Kopf hoch und genoss den Ruhm, solange er andauerte.
»Eins noch«, meinte Greathouse und blieb bereits stehen, bevor sie weit von Sally Almonds Tür gekommen waren. »Ich möchte herausfinden, wie intelligent Zed ist. Zum Beispiel, wie viel Englisch er versteht. Wie schnell man ihm etwas beibringen kann. Ihr könnt mir dabei helfen.«
»Und wie?« Matthew war sich sofort bewusst, dass er diese Frage bereuen würde.
»Ihr kennt eine Lehrerin«, gab Greathouse zurück. Als Matthew nicht sofort antwortete, half er nach: »Sie hilft Rektor Brown in der Schule.«
Er meinte natürlich Berry Grigsby. Matthew trat beiseite, um einen Wagen vorbeizulassen, der einen braunen Stier zum Viehmarkt zog.
»Ich will ihre Meinung wissen«, beharrte Greathouse. »Kommt um vier Uhr nachmittags mit Eurer Freundin ins Rathaus, in McCaggers Dachstube.«
»Oh je, die wird ihr gefallen!« Matthew konnte sich Berry nur zu gut in der Mansarde vorstellen, wo McCaggers seine Skelette und grausigen Leichenbeschauerinstrumente aufbewahrte. Sie würde aus dem Zimmer schießen wie eine Kugel aus einer Kanone.
»Es braucht ihr nicht zu gefallen und Euch auch nicht. Seht nur zu, dass Ihr pünktlich seid.« Greathouse kniff die Augen zusammen und sah die Nassau Street in Richtung Norden hoch. »Ich habe noch etwas zu erledigen, das eine Weile dauern kann. Ich gehe davon aus, dass Ihr heute etwas zu tun habt, bei dem Ihr nicht Euer Leben aufs Spiel setzen müsst?«
»Ich finde schon was.« Er hatte viele alte Fallberichte neu abzuschreiben. Wer einmal ein Schreiber gewesen war, blieb immer einer.
»Also dann, um vier«, sagte Greathouse und ging die Straße im Morgenverkehr nach Norden hoch.
Matthew sah ihm nach. Ich habe noch was zu erledigen. Irgendwas führte er im Schilde. Greathouse war auf der Jagd; Matthew konnte fast sehen, wie er in die Luft hineinschnupperte. Er war in seinem Element, ein Wolf unter Schafen. Er hatte also einen Fall. Aber wer war der Klient? Falls das stimmte, hielt er ihn vor Matthew geheim, Tja, aber Matthew hatte auch ein Geheimnis. Zwei sogar. Die Blutkarte und die Höhe seiner Schulden.
Und noch ein drittes.
Eure Freundin, hatte Greathouse gesagt.
Wenn sie doch nur mehr als eine Freundin wäre, dachte Matthew. Aber in seiner Situation, in seinem Beruf und mit der Blutkarte …
Freundin musste reichen.
Als Greathouse aus seinem Sichtfeld verschwunden war, drehte Matthew sich nach Süden um. Er machte sich auf den Weg in die Stone Street 7, wo er den Morgen mit Einträgen ins Protokoll verbringen und ab und zu innehalten würde, wenn er das leise Lachen von weit entfernten Gespenstern vernahm.