Er war jetzt vor seinem eigenen Küchenfenster. Er hielt sein Smartphone gegen das Magnetschloss des Fensters und strich über das Display. Das Fenster entriegelte sich. Er presste die Hände flach gegen das Glas und drückte. Langsam quälte sich das uralte Fenster nach oben, bis der Spalt breit genug war, um hindurch zu klettern. Er sank auf den Küchenboden und blieb dort für einen Augenblick sitzen.
Als sein Herzschlag sich normalisiert hatte, schlich er auf Zehenspitzen zur Wohnungstür und spähte durch den Türspion. Er konnte zwei Personen auf dem Korridor sehen. Anzugträger. Lange Wollmäntel. Möglicherweise Russen. Leon wich von der Haustür zurück, als ob sie aus Sprengstoff wäre, der jeden Augenblick explodieren konnte und ging zurück in sein Zimmer. Er schloss die Tür und holte einmal tief Luft.
Er hatte offenbar gar keine Wahl. Nicht nur das Leben seines Onkels war in Gefahr, auch hinter ihm waren die Schläger her. Er hatte nie davon gehört, dass die russische Mafia besonders freundlich war, und er zweifelte daran, dass sie nett zu ihm sein würden, nur weil er noch minderjährig war.
Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und tippte sanft mit seinem Smartphone gegen seinen Tisch. Das 36 Zoll Display erwachte zum Leben. Leon ließ seine Hände darüber gleiten, bereitete eine Nachricht an seinen Onkel vor.
Ich mach es. Aber du musst diese Schläger von mir und meiner Familie fernhalten. Ich kann nicht arbeiten, wenn ich um mein Leben fürchten muss.
Die Antwort kam nur ein paar Sekunden später. Leon sah auf die Uhr und fragte sich, wie spät es in Moskau sein mochte und ob sein Onkel jemals schlief.
Die Mail war umfangreich – Leon sah, wie seine Bandbreite kurzfristig in die Höhe schoss. Aber die Textnachricht war nur kurz:
Okay. Aber ich kann sie dir nur für drei Tage vom Hals halten. Danach werden wir beide in Schwierigkeiten sein, wenn du nichts liefern kannst ‑ Alex
»Scheiße«, murmelte Leon. Wo war er da nur hineingeraten?
Der Anhang der Nachricht seines Onkels war immens. Leon arbeitete auf seinem Touchscreen, trennte das Datenpaket auf und sah sich jede einzelne Datei an. Es waren die Quellcodes für ein Dutzend Viren, die sein Onkel geschrieben hatte. Dazu die Binärcodes für Dutzende weiterer Computerviren, die er überall auf der Welt gesammelt hatte. Außerdem gab es Spezifikationen für das Interface, das sein Onkel als Administrator-Tool benutzte, um infizierte Computer zu steuern. Er fand auch Informationen über die Arbeitsweise von Antivirenprogrammen und Auszüge aus Newsgroups von Virenentwicklern. Offenbar hatte sein Onkel erwartet, dass er zustimmen würde, und ein umfangreiches Archiv an Wissen über Computerviren vorbereitet.
Leon fiel die Kinnlade herunter. Was sollte er mit all dem anstellen? Wieder sank er in seinen Stuhl zurück, schloss die Augen und dachte nach.
Stunden später schlurfte Leon in die Küche. Er nahm sich eine Dose gesüßten japanischen Kaffees aus dem Kühlschrank und ein Stück Kuchen vom Tresen. Er schlich wieder zur Haustür, den Mund noch voll Kuchen, und spähte durch den Türspion. Endlich waren die Kerle weg. Es war eine Weile her, seit er seinen Onkel kontaktiert hatte, und die Schläger mussten erfahren haben, dass er zugestimmt hatte, seinem Onkel zu helfen. Ein Teil von ihm war erleichtert, da er nicht gewusst hatte, wie er das alles seinen Eltern erklären sollte. Dafür lag jetzt ein riesiger Haufen Arbeit vor Leon, aber er hatte sich immerhin auf eine grobe Herangehensweise festgelegt. Er hatte sich interessiert die Beispiele angesehen, die ihm sein Onkel geschickt hatte. Aber er hatte keinerlei Erfahrungen mit dem Schreiben von Computerviren und erkannte deshalb, dass es ihm unmöglich sein würde, all die Techniken und Hintertürchen zu verstehen, die ein versierter Hacker nutzen würde. Sobald er das verstanden hatte, war für ihn klar, dass er die Grundlagen nutzen musste, von denen er wirklich etwas verstand – und das waren Biologie und Evolution.
In der realen Welt passte sich das Leben an. Ein biologischer Virus veränderte sich über die Zeit durch genetische Mutation. Während die Wirte eine Immunität gegen bekannte Viren entwickelten, mochte eine Art aussterben oder mutieren und zu einem neuen Virus werden. Leben überhaupt veränderte sich permanent durch natürliche Selektion. Eine genetische Variante, die einen Überlebensvorteil brachte, würde sich ausbreiten und zur Norm werden, während Varianten, die dem Überleben im Weg standen, weniger häufig werden würden, da die Organismen mit diesem Erbgut starben und sich nicht fortpflanzen konnten.
Leon dachte daran, wie die Evolution sowohl durch sexuelle Reproduktion ablief, in der der Nachwuchs eine Mischung des Erbmaterials der Eltern mit auf den Weg bekam, aber auch durch spontane Mutation, bei der Gene zufällige Veränderungen durchliefen, meist durch Fehler beim Kopieren der DNS-Sequenz. Für einen Computervirus wären das, was einer DNS am nächsten käme, die Softwarealgorithmen, die der Virus benutzte.
Leon zeichnete Diagramme auf seinen Bildschirm, unterteilte die Problemstellung in die vier primären Funktionen eines Computervirus. Verbreitung war die Art, wie ein Virus sich von einem Computer zum nächsten bewegte. Infektion war die Art und Weise, wie das Virus einen Computer übernahm und sich selbst installierte. Gegenmaßnahmen waren der Schutz, mit dem sich der Virus der Entdeckung durch Antivirensoftware entziehen konnte. Wenn Leon einen evolutionären Virus schreiben wollte, musste er eine ganze Reihe von Methoden der Übertragung, Infektion und möglicher Gegenmaßnahmen beinhalten. Und wenn der Virus sich reproduzierte, würde er die erfolgreichsten Methoden weitergeben und die weniger erfolgversprechenden aussortieren. Aber während er das Material von Onkel Alex durchsah, erkannte er, dass dieser Ansatz alleine nicht ausreichen würde. Wenn die Algorithmen, die sein Onkel ihm geschickt hatte, wirklich gut funktionieren würden, hätten seine Viren sich ausbreiten müssen. Wenn sie das aber nicht taten, so war das ein sicheres Zeichen dafür, dass sie nicht effektiv waren.
Das bedeutete, dass Leon für seinen Virus neue Quellen finden musste. Er schob den letzten Bissen Kuchen in seinen Mund und zog die Notizen zu seinem Kurs in Kultureller Anthropologie heraus. Er erinnerte sich, dass sein Problem dem ähnelte, was innerhalb kleiner, indigener Volksstämme geschah: Sie brauchten neues genetisches Material von außerhalb ihrer eigenen Sippe. Leon ging durch seine Notizen, bis er den Absatz über Ausgestoßene fand. Während er seine Notizen durchlas, erkannte Leon, dass die Stämme Mitglieder untereinander austauschten, um genetische Varianz sicherzustellen. Manchmal endeten einige von ihnen als Ausgestoßene, andere Stammesmitglieder wurden in Kriegen gefangen genommen, und manche Stämme raubten sich gegenseitig die Frauen. All diese Mechanismen brachten neues genetisches Material in die Population und verbesserten so ihre Überlebenswahrscheinlichkeit. Was für zivilisierte Völker wie barbarisches Verhalten aussah, war in Wirklichkeit ein ausgeklügelter Langzeitplan, um die Gesundheit, die genetische Varianz und das Überleben der Spezies sicherzustellen.
Sein Virus würde also andere Software ›überfallen‹ müssen, um neues ›genetisches‹ Material zu erlangen. Das bedeutete, dass es nötig war, nutzbringendes Verhalten erkennen zu können. Wenn eine Software Daten an eine andere übermittelte, so würde das die Ausbreitung des Virus unterstützen, wäre also ein Kandidat für eine Übernahme. Wenn eine andere Software als Teil ihres Programmcodes in der Lage war, wiederum andere Software zu aktivieren, so würde dies die Infektion unterstützen, da es notwendig war, ein Programm zu starten, um einen Computer zu infizieren. So eine Software wäre ebenfalls ein nützlicher Kandidat.
Was Gegenmaßnahmen gegen Entdeckung anging, dachte Leon, dass es ein guter Anfang wäre, wenn sich sein Virus häufig verändern würde und andere Programme imitierte, indem es ihren Programmcode stahl. Er entschied sich, einen Schritt weiter zu gehen und seinem Virus eine gewisse Funktionalität zu geben: Wenn das Virus aussah wie eine Ente und quakte wie eine Ente, dann würden die meisten glauben, dass es auch eine Ente war, anstatt misstrauisch zu werden. Er brauchte also eine Quelle für so eine nützliche Funktion, aber woher sollte er sie nehmen?
Er könnte natürlich Anwendungsdatenbanken plündern. Jeder betrieb heutzutage konkurrierende App-Stores, um Teil des hart umkämpften Softwaremarktes zu sein. Diese App-Stores boten neben Kaufsoftware