Er verstummte für einen Augenblick, um auf dem Netboard einen stilisierten PC zu zeichnen. »Aber der größte Vorteil des Mesh ist, dass es komplett resistent gegen Manipulation und Hacking ist, weit mehr, als es das Internet in seinen besten Zeiten vor dem Mesh war. Wenn ein Knoten ausfällt, springt ein anderer ein, selbst wenn 1000 MeshBoxen ausfallen, ist das noch einfach zu überbrücken. Die MeshBoxen selbst sind manipulationssicher – Avogadro fertigt sie als geschlossene Systeme. Die Basisalgorithmen sind in der Hardware implementiert und nicht in der Software. Deshalb ist es nicht möglich, ihre Funktionalität in böser Absicht zu verändern. Der Datentransfer zwischen den Boxen ist verschlüsselt. Benachbarte Boxen tauschen Statistiken miteinander aus. Wenn also jemand versucht, etwas ins Mesh einzuspeisen, indem er eine MeshBox simuliert, können die benachbarten Boxen die Verhaltensstatistiken vergleichen und den Wolf im Schafspelz erkennen. Verglichen mit dem traditionellen Internet ist das Mesh zuverlässiger und sicherer.«
Leon sah auf und bemerkte, dass er vor der Klasse stand. Auf dem Netboard hinter ihm hatte er die Diagramme von normalen Netzwerkknoten und dem Mesh-Netzwerk gezeichnet. Die gesamte Klasse starrte ihn an. James machte vom anderen Ende des Raumes aus ein Was-zum-Teufel-tust-du-da?-Gesicht. Hätte er eine Zeitmaschine gehabt, wäre Leon jetzt zurückgereist und hätte seinem jüngeren Selbst geraten, einfach seine große Klappe zu halten.
Der Lehrer hingegen war begeistert und hatte ein breites Lächeln auf seinen hageren Zügen. »Hervorragend, Leon. Also ging es Avogadro um Netzneutralität, als sie eine komplett unabhängige Netzwerkstruktur erschufen. Aber warum reden wir heute darüber?«
Leon versuchte, sich zu seinem Tisch zurück zu schleichen.
»Nicht so schnell, Leon«, rief der Lehrer. »Warum genau ist Netzneutralität wichtig für uns? Das hier ist kein kaufmännischer oder wissenschaftlicher Kurs. Wir interessieren uns für Nationalstaaten. Warum ist Netzneutralität und Internetzugang für Staaten so wichtig?«
Leon schaute trotzig in eine Ecke des Raumes und seufzte schicksalsergeben. »Weil in 2011, als die tunesische Regierung gestürzt wurde, dies hauptsächlich durch Aktivisten geschah, die sich über das Internet organisierten. Ägypten, Syrien und andere Länder versuchten, solche Aktivisten zu unterdrücken, indem sie den Internetzugang sperrten, um eine unkontrollierte Verbreitung von Informationen zu verhindern. Das Mesh übergeht nicht nur Internetanbieter, es stört auch die Kontrolle nationaler Regime über das Internet. Statt ein Dutzend oder weniger internationale Internetknoten zu deaktivieren, was bei einer Zentralregierung durchaus möglich wäre, hat das Mesh-Netzwerk in jedem denkbaren Land Tausende von Knoten, die über die Landesgrenzen reichen. Als Regierungen versuchten, WiFi-freie Zonen entlang ihrer Grenzen durchzusetzen, reagierte Avogadro, indem es seine MeshBoxen mit Satellitenmodems ausstattete, sodass jede Box, von überall auf der Erde, einen Satelliten von Avogadro kontaktieren kann, wenn alle anderen Verbindungsarten fehlschlagen. Durch MeshBoxen und WikiLeaks ist es für Regierungen unmöglich geworden, den Fluss von Informationen zu beschränken. Transparenz beherrscht die Welt.«
»Absolut richtig. Vielen Dank, Leon, du kannst dich setzen. Leute, lasst uns über Transparenz und Staaten reden.«
Leon trottete an seinen Tisch zurück.
»Toll gemacht, du Niete«, rief James nach der Stunde. »Was wurde aus ›nur nicht auffallen‹?«
»Schau mal, das Mesh ist einfach cool. Es ist die Art von elektronischer Kommunikation, wie sie in der Natur entstehen würde. Billig, simpel und sicher, ohne die Notwendigkeit zentralisierter Hardware. Ich konnte einfach nicht anders.«
»Na klar, Geschichte macht Spaß. Vielleicht solltest du deiner Klasse einen Vortrag über schöpferisches Gemeingut halten.« James' Tonfall war spöttisch, aber als Leon aufsah, sah er ein Lächeln in James' Mundwinkeln.
»Ja, sicher«, sagte Leon und grinste zurück. James drehte sich um und ging zu seinem nächsten Kurs.
Auch Leon ging in seinen nächsten Kurs und wollte sich gerade auf seinen Stuhl setzen, als sein Smartphone hochfrequent zu summen begann, was eine ankommende Textnachricht ankündigte. Leon zog es aus der Tasche, um die Nachricht zu lesen.
Leon, ich bin dein Onkel Alex. Ich hoffe, du erinnerst dich an mich – du warst erst 10, als ich das letzte Mal in New York war. Ich hörte von deinen Eltern, dass du toller Computerprogrammierer bist.
Leon rollte mit den Augen, las aber weiter.
Ich arbeite selbst an Softwareprojekt hier in Russland und könnte deine Hilfe brauchen. Ich habe ungewöhnlichen Job, von dem deine Eltern nichts wissen. Ich schreibe Computerviren für Gruppe hier in Russland. Sie zahlen sehr gut.
Leon lehnte sich vor und las die Mail jetzt ganz konzentriert. Wenn er Computerviren für eine Gruppe in Russland schrieb, konnte es sich nur um die russische Mafia und ihre berüchtigten Botnetze handeln.
Ich bin in Schwierigkeiten. Die Hersteller von Antivirussoftware bringen sehr gute Updates für ihre Programme heraus. Virenprogrammierer und die Entwickler von Antivirenprogrammen bekämpfen sich schon seit Jahren. Aber plötzlich sind die Programmierer der Antivirenprogramme sehr, sehr gut geworden. Kein einziger Virus, den ich in den letzten Monaten geschrieben habe, kam gegen die Antivirussoftware an. Du erkennst vielleicht, dass ich über den Betrieb von Botnetzen spreche. Wegen der guten Firewalls schrumpfen die Botnetze und werden bald zu klein sein, um noch effektiv arbeiten zu können.
Unglücklicherweise, obwohl die Bezahlung sehr gut ist, musst du verstehen, dass die Männer, für die ich arbeite, sehr gefährlich sind. Sie sind sehr unglücklich über …
»Leon. Hörst. Du. Zu?«
Leon sah erschrocken auf. Die ganze Klasse starrte ihn an.
»Kannst du uns sagen, warum die Kolonien sich von Großbritannien unabhängig erklärten?«
Leon starrte die Lehrerin einfach nur an. Sie sprach zwar mit ihm, aber die Worte schienen aus großer Ferne zu kommen. Wovon redete sie überhaupt?
Die Lehrerin ging zu ihrem Pult. »Mr. Tsarev, würden Sie freundlicherweise aufpassen?« Dies war keine Frage.
Leon nickte geistesabwesend und wartete, bis sie ihm den Rücken zudrehte, um die Mail weiter zu lesen.
Sie sind sehr unglücklich über das schrumpfende Botnetz und geben mir zwei Wochen, um einen Virus zu entwickeln, der das Botnetz wieder ausdehnt. Nichts, was ich bisher ausprobiert habe, funktioniert. Ich habe nur noch eine Woche, und ich fürchte, sie werden …
»Mr. Tsarev.« Leon sah auf und fand seine Lehrerin über ihn gebeugt. »Muss ich Ihnen erst das Handy abnehmen?«
»Aber wie soll ich mir dann Notizen machen?«, fragte Leon in seinem unschuldigsten Tonfall.
»Das wäre vielleicht der Fall, wenn du wirklich zuhören würdest, aber da du das nicht tust, denke ich, dass die Notizen deine geringste Sorge sind.« Sie ging zurück nach vorne, behielt Leon dann aber die ganze Zeit im Auge. Um genau zu sein, sah sie für den Rest der Stunde nicht mehr weg.
Sobald Leon den Klassenraum verlassen konnte, lief er hinüber in eine Ecke des Korridors, um die Nachricht fertig zu lesen.
Ich habe nur noch eine Woche, und ich fürchte, sie werden mich töten, wenn ich ihnen keinen neuen Virus liefern kann. Neffe, deine Eltern reden ständig über deine Fähigkeiten am Computer, und ich muss wissen, ob ihre Worte wahr sind. Wenn du mir helfen kannst, dann kontaktiere mich sobald wie möglich. Ich gebe dir die nötigen Hintergrundinformationen über die Entwicklung von Viren: Quellcode, Programmierbeispiele,