Herzliche Zuneigung fühlte Pucki für ihre Nachbarin, die kleine, blasse Thusnelda Reichert. Manches Frühstücksbrot war mit ihr geteilt worden, und wenn Pucki einmal eine kleine Leckerei mitbekam, erhielt Thusnelda gewissenhaft die Hälfte davon.
»Du sollst wieder mal zu uns ins Forsthaus kommen«, sagte Pucki am heutigen Tage zu der Schulfreundin. »Du sollst dann wieder Milch und Waffeln haben.«
Die scheue Thusnelda schüttelte den Kopf.
»Doch, du sollst kommen!«
»Nein, ich kann nicht.«
»Warum kannst du denn nicht? Ich zeige dir den Weg.«
Wortlos streckte Thusnelda die Füße vor; Pucki blickte auf zwei recht zerrissene Schuhe.
»O je«, sagte Pucki, »die sind aber kaputt! Wenn's regnet, hast du nasse Füße und wirst krank. Du mußt andere Schuhe anziehen, die keine Löcher haben.«
»Ich habe keine anderen.«
»Ich hab' zu Hause noch ein Paar braune Schuhe und ein Paar weiße, und die hier habe ich auch.«
»Ich habe gar keine anderen.«
»Dann hol dir doch meine Schuhe.«
Wieder schüttelte Thusnelda den Kopf. Um ihre Lippen zuckte es, dann kamen Tränen.
Pucki strich ihr liebevoll über die Backen. »Weinst du, weil du keine Schuhe hast?«
»Ja – –«
»Dann weine mal nicht, hier hast du meine Schuhe, dann bekommst du keine nassen Füße. Ich habe zu Hause noch sooo viele. Mutti zieht mir andere an.«
Schon hatte das kleine Mädchen die Schuhe ausgezogen und stellte sie vor Thusnelda auf die Schulbank. Die anderen Kinder waren aufmerksam geworden und flüsterten miteinander. Als aber Thusnelda noch immer nicht nach den Schuhen griff, zerrte Pucki die Kleine aus der Bank heraus, löste ihr das zerrissene Schuhwerk von den Füßen und streifte ihr die braunen Sandalen über die Füße.
»Die kannst du jetzt immer behalten.«
»Aber dann hast du ja keine Schuhe? Wie willst du denn bis ins Forsthaus kommen?« rief Georg Rabe.
»Heute brauche ich keine Schuhe, ich fahre mit dem Wagen, und zu Hause habe ich andere Schuhe.«
In diesem Augenblick betrat Fräulein Caspari die Klasse. Sogleich nach der Begrüßung riefen ihr die Kinder zu, daß Pucki ihre Schuhe der Thusnelda geschenkt hätte. Da wurde das kleine Mädchen sehr erregt und sagte mit lauter, energischer Stimme:
»Olle Klatschliesen seid ihr! Mutti hat gesagt, wenn man was verschenkt, darf man nicht davon reden.«
»Darfst du deine Schuhe verschenken, Pucki?« fragte die Lehrerin.
»Ja – ich habe noch viele andere Schuhe!«
Thusnelda war während der Unterrichtsstunden sehr unaufmerksam. Sie betrachtete beglückt die hübschen Sandalen, die ihr nunmehr gehören sollten. Wie würde die Mutter sich freuen, wenn sie mit neuen Schuhen heimkam. Sie schrak zusammen, als sie die Stimme Fräulein Casparis hörte, die schon zum zweiten Male fragte:
»Nun, Thusnelda, weißt du mir nicht zu antworten?«
Thusnelda hatte die erste Frage überhaupt nicht gehört, sie wußte nicht, um was es sich handelte. Pucki flüsterte ihr zwar etwas ins Ohr, bekam deswegen aber einen Verweis.
»Wenn du flüstern kannst, Pucki, kannst du uns auch laut und deutlich erzählen, was du von den Tieren des Waldes weißt.«
»O ja – von denen weiß ich viel! Da ist zuerst das kleine weiße Pferdchen, mit dem ich heute wieder nach Hause fahre.«
»Das Pferd ist aber kein Tier des Waldes.«
»Ja, das Pferdchen ist immer im Walde, das Pferdchen hat ein weißes Fell, aber es gibt auch Pferde mit einem braunen und einem schwarzen Fell.«
Fräulein Caspari lächelte nachsichtig. »Nun gut, Pucki, so erzähle uns einmal eine Geschichte von dem weißen Pferdchen. Ihr anderen paßt gut auf, damit ihr mir morgen auch davon erzählen könnt.«
»Das weiße Pferdchen heißt Liese; es hat vier Beine und hinten einen Schwanz, mit dem es wackelt, wenn es sich freut oder wenn es von den Fliegen geärgert wird. Manchmal sind auch ganz große Fliegen da, die das Pferdchen stechen. Wenn Onkel Niepel der Liese ins Maul guckt, weiß er, wie alt sie ist. Das hat er mir gesagt. An den Hufen hat das Pferd Eisen. Ein weißes Pferd steht auch auf dem Karussell, auf dem ich geritten habe.«
»Fräulein, das ist aber nur von Holz!«
»Sei still, Hans, erst soll Pucki fertig erzählen.«
»Die Liese ist ein schönes Pferdchen, denn es bekommt viel Hafer. Die Liese ist viel älter als ich, denn sie war schon da, als ich noch ganz klein war. So, nun bin ich fertig.«
»Das hast du recht nett gemacht, Pucki. Morgen werdet ihr mir auch noch einiges über die Pferde erzählen.«
»Ich weiß noch viel mehr«, rief einer der Knaben. Nun erzählte er von einem Pferd, das vor einen schweren Lastwagen gespannt war, und wie der grobe Kutscher das arme Tier mit einer Peitsche geschlagen hätte.
Pucki hob den Finger in die Höhe, und als sie zum Sprechen aufgefordert wurde, sagte sie:
»Fräulein Caspari, man darf das Pferd nicht mit der Peitsche hauen. Ein Pferd weiß alleine, ob es schnell oder langsam gehen soll.«
Die Stunde verlief recht angeregt, denn über das Pferd wußte jedes Kind etwas zu sagen. So schnell wie heute war Pucki die Zeit des Unterrichts noch nie vergangen, und als es läutete, war sie erstaunt, daß sie schon wieder heimgehen durfte.
»Halt, Pucki«, rief die Lehrerin, »willst du nun ohne Schuhe bis zum Marktplatz laufen?«
»O ja, ich laufe manchmal sogar ohne Strümpfe.«
»Dann ziehe wenigstens die Strümpfe aus. Es ist heute warm, und du bist das Barfußgehen gewöhnt.«
Pucki tat es und eilte überglücklich zum Marktplatze. Die drei Knaben waren noch nicht da, doch der Kutscher wartete bereits mit dem Wagen. Die Kleine ging von Schaufenster zu Schaufenster und betrachtete die Auslagen.
»Du – was steht denn hier geschrieben?«
Der gutmütige Kutscher gab bereitwillig Auskunft. Da wurden in der Apotheke die verschiedensten Mittel angepriesen; beim Bäcker wurde Reklame für ein neues Schrotbrot gemacht. Weiter ging es zur Tischlerei. Da hing ein großer weißer Zettel.
»Was hat denn der Mann geschrieben?«
»Hier wird das Wachsen von Möbeln übernommen.«
»Was – – das Wachsen von Möbeln?«
»Ach, du Dummerlack! Der Tischler meint, die Möbel werden schön aufpoliert und mit Wachs bestrichen.«
Lautes Lärmen auf dem Markte verkündete, daß auch die beiden anderen Schulklassen geschlossen worden waren. Die Kinder tobten die Straßen entlang. Paul und Fritz waren am Wagen und stiegen bereits ein.
»Wo bleibt denn der Walter«, forschte Pucki.
»Der kommt auch gleich nach, der kann nicht so schnell laufen, er ist krank.«
»Krank?« rief Pucki erschrocken, »was hat er denn? Ich werde ihn holen.«
Doch da kam schon Walter. Er ging