Die Lehrerin verbiß sich das Lachen, meinte jedoch, sie wolle das Pferdchen sehen.
»Morgen kannst du es sehen, wenn es sich ausgeruht hat. Wenn das Pferdchen müde ist, läßt es der Kutscher nicht mehr aus dem Stall heraus.«
Fräulein Caspari gab sich damit zufrieden. Die anderen Kinder hatten allerlei drollige Zeichnungen ausgeführt, und als es hieß, die Tafel sei wieder abzuwischen, entstand unwilliges Gemurmel.
»Wenn ich's wieder wegwischen soll«, rief Heinz Rabe, »hätte ich es gar nicht erst zu zeichnen brauchen. – Ich wisch es nicht weg!«
Er packte die Tafel energisch ein. Da ertönte draußen die Glocke, und nun gab es einen Tumult.
»Meine Mutter ist draußen – meine Mutter ist draußen!«
Auch Hedi stopfte mit überraschender Geschwindigkeit die Tafel in den Ranzen, um ihre Tüte recht bald in Empfang zu nehmen.
»Kriegst du auch eine Tüte?« fragte sie ihre Nachbarin.
»Nein – –«
»Warum denn nicht?«
»Weil meine Mutter kein Geld hat.«
»O je – ich geb' dir ein Stückchen ab.«
Auf die Abschiedsworte, die Fräulein Caspari sprach, achtete keines der Kinder. Alles drängte zur Tür. Einige stolperten, schrien und fielen hin. Der große Flur des Schulhauses war von dem Geschrei der Klasse angefüllt.
Vierundvierzig kleine Knaben und Mädchen warteten auf ihre Mütter.
Aufs neue begann ein Drängeln und Stoßen; schließlich hatte Pucki ihre Mutter gefunden. Mit einem Jubelruf stürzte sie auf sie zu.
»Ich habe nicht in der Ecke gestanden, Mutti, ich habe mich auch nicht gegrault. – Oh, die schöne, große Tüte!«
Hedi nahm die Tüte in den Arm und liebkoste sie. Dabei erinnerte sie sich an das kleine Mädchen, das neben ihr gesessen hatte.
»Denk mal, Mutti, ein Mädchen bekommt keine Tüte, weil ihre Mutter eine arme Frau ist. Darf ich ihr ein Stück Schokolade schenken?«
»Selbstverständlich, Pucki.« Frau Sandler hatte längst die traurigen Blicke einiger Kinder bemerkt, deren Eltern nicht in der Lage waren, ihren Kleinen am ersten Schultage eine derartige Freude zu machen. Sie freute sich über ihr Töchterchen, dessen weiches Herz sich soeben wieder zeigte.
Diesmal wählte Pucki ein großes Stück Schokolade, das sie Thusnelda Reichert reichte, die mit traurigem Gesicht abseits stand und an dem Jubel der Beschenkten nicht teilnehmen durfte.
»Hier hast du was!«
Frau Sandler schaute auf das dürftig gekleidete Mädchen, dem man seine Armut deutlich ansah. Wie blaß die Kleine aussah, gerade so, als ob sie nicht immer richtig zu essen bekäme.
»Pucki«, sagte sie leise zu ihrer Tochter, »ich glaube, deine kleine Nachbarin hat es nicht so gut wie du. Wie wäre es, wenn du das kleine Mädchen einmal zu dir in den Garten einladen wolltest. Sie könnte mit dir Kaffee trinken und spielen, damit sie rote Bäckchen bekommt.«
»Ja, sie sieht so weiß aus, Mutti. Aber wenn sie jetzt das Stück Schokolade gegessen hat, wird ihr gleich besser sein.«
Frau Sandler neigte sich zu der scheuen Kleinen nieder und fragte sie aus. Viel erfuhr sie nicht. Die Mutter des Kindes ging in die Häuser, Wäsche waschen; der Vater war längst tot. Es waren noch mehrere größere Geschwister da, die Not schien groß zu sein. Pucki stand daneben und lauschte aufmerksam.
»Haben deine großen Kinder auch keine Tüte bekommen, als sie zur Schule gingen?«
»Nein.«
»Bekommst du nie Schokolade oder Apfel und Birnen?«
»Nein.«
»Das ist aber schlimm.«
»Ich glaube, es gibt noch viele arme Kinder, Pucki, die es nicht so gut haben wie du. Die alle sehr froh wären, wenn sie den Milchreis bekämen, den du nicht essen magst. Manche Mutti kann ihren Kindern gar nichts kochen, dann haben sie Hunger.«
»Hast du Hunger?« fragte Pucki.
»Ich hab' oft Hunger!«
Einen Augenblick zögerte Pucki, dann drückte sie energisch dem blassen Mädchen die schöne große Tüte in den Arm.
»Weil du Hunger hast, und weil ich daheim noch eine Tüte hab'! Nu iß und hab keinen Hunger mehr. Du kannst sie behalten.«
Zunächst war Thusnelda Reichert wie versteinert. Dann aber stürmte sie davon, weil sie fürchtete, daß man ihr das kostbare Geschenk wieder fortnehmen könnte. Hedi hatte trotzdem das strahlende Leuchten bemerkt, das über das blasse Kindergesicht geglitten war.
»Mutti«, flüsterte sie, »sie freut sich.«
»Ja, mein Kind, sie freut sich. Man hat ihr wohl noch nie eine Tüte mit Süßigkeiten geschenkt. Nun hast du aber nichts.«
Pucki streckte die leeren Hände in die Luft.
»Nein, nun habe ich nichts – aber vielleicht, wenn ich sehr lieb bin, kriege ich noch was.«
»Nein, Pucki, Mutti hat nur eine Tüte gekauft. Du hast diese Tüte verschenkt, du hast aber dafür ein armes Mädchen sehr glücklich gemacht. Ist das nicht auch schön?«
»Sie hat sich fürchterlich gefreut, Mutti. Nu hat sie meine ganze, große Tüte. – Ein Stückchen hätte sie mir doch abgeben können.«
»Denke immer daran, mein gutes Kind, daß die Kleine sehr viel Freude an dieser Tüte hat. Daheim sind noch mehr Geschwister, die sich alle freuen werden, daß sie endlich einmal eine Leckerei bekommen. Du kannst es den Kindern gönnen, Pucki. Du bekommst oft etwas Gutes, aber arme Kinder nie. Oder tut es dir leid, daß du das Geschenk gemacht hast?«
»Wenn sie sich darüber freut, Mutti, dann mag sie es behalten. Ich habe daheim doch noch die Tüte von Tante Niepel. – Es muß sehr schlimm sein, wenn man Hunger hat und die Mutti nichts kaufen kann. Jedesmal, wenn du mir jetzt Schokolade schenkst, werde ich ihr ein Stückchen abgeben. Mutti, dann mußt du mir sehr oft Schokolade schenken, damit sie sich freuen kann.«
Nun ging es heimwärts. Unterwegs blieb Pucki plötzlich stehen.
»Wenn nun aber noch andere Kinder da sind, die auch keine Tüte bekommen haben, was machen wir dann?«
»Ich glaube, es waren sehr viele darunter, Pucki. Du wirst in Zukunft zu diesen armen Kindern besonders nett sein und versuchen, auch ihnen einmal eine kleine Freude zu machen.«
Pucki war recht nachdenklich geworden. Erst als die Mutter nach den Erlebnissen des ersten Schultages fragte, plapperte das kleine Mäulchen lustig drauf los.
»Aber morgen erzähle ich ihr mehr von dem Eichkätzchen, das auf den Baum hüpft, das wird sie nicht wissen, Mutti.«
»Wenn Fräulein Caspari danach fragt, kannst du es ihr erzählen. Aber sonst mußt du immer recht still sein.«
»Mutti, das Fräulein wird doch wohl keinen Hunger haben? Sie ist nicht arm, ich brauche sie also nicht zum Kuchen in den Garten einzuladen wie die kleine Thusnelda?«
»Nein, Pucki, das brauchst du nicht. Doch sieh, da steht der Vati, er wird sich freuen, von dir etwas über den heutigen Tag zu hören.«
Pucki flog dem Vater in die geöffneten Arme.
»Im Walde bei dir ist es viel, viel schöner, Vati, aber ich denke, daß ich mich auch mit Thusnelda vertragen werde.«
Pucki will keinen hungern lassen