Schließlich gelang es der Lehrerin die Ruhe wieder herzustellen. Aufmerksamkeit herrschte jedoch nicht mehr, denn einer tuschelte es dem anderen zu, daß man heute nachmittag im Forsthause Birkenhain Schokolade bekäme und Kuchen essen dürfe.
»Soll ich meine Großmutter auch mitbringen?« fragte eines der kleinen Mädchen.
»Das weiß ich nicht. – Wenn sie kommen will, soll sie ruhig mitkommen.«
Schließlich waren die beiden Stunden des zweiten Schultages vorüber. Doch diesmal trennten die Kinder sich nicht so rasch wie gestern. Wohl waren verschiedene Mütter vor der Schule, aber keine von ihnen trug eine Tüte. Frau Sandler war nicht gekommen, nur Minna stand draußen, um Pucki abzuholen. Da gerade die anderen Klassen Pause hatten, liefen verschiedene der Abc-Schützen zu ihren Geschwistern, um ihnen die freudige Botschaft zu übermitteln, daß man heute nachmittag im Forsthause sein würde, um Schokolade und Kuchen zu essen.
Ein etwa neunjähriger Knabe stellte sich keck vor Pucki hin und sagte: »Ich habe auch keine Tüte bekommen, ich komme mit!«
»Komm nur«, meinte Pucki, »unsere Kuh gibt immer wieder neue Milch, man braucht sie nur zu melken.«
»Was redest du denn da, Pucki?« fragte Minna.
»Komm fix nach Hause, Minna, ich muß der Mutti erzählen, was ich ihr für eine große Freude mache. Die Thusnelda braucht nicht mehr zu hungern und die anderen auch nicht.«
Frau Sandler ahnte nicht, was ihr für heute nachmittag bevorstand. Überglücklich erzählte Pucki von all den Kindern, die heute nachmittag herauskommen würden, weil sie Hunger hätten.
»Mutti, wir geben ihnen gute Milch und ein bißchen Kuchen.«
»Wollen sie bestimmt herauskommen?«
»O ja, sie haben es gesagt. Die Thusnelda bringt auch die große Schwester mit.«
»Nun, auf ein Glas Milch soll es uns nicht ankommen, Pucki.«
Die Einladung der kleinen Försterstochter wurde von vielen Eltern mißverstanden. Es gab zahlreiche arme Familien in Rahnsburg, die das Forsthaus Birkenhain und Sandlers kannten. Manche Väter waren in dem Forst beschäftigt, man wußte auch, daß des öfteren Krüge mit Milch in den Wald gebracht worden waren, wenn es galt, den erhitzten und müden Männern eine Erfrischung zu reichen. Es erschien daher diesen Eltern gar nicht verwunderlich, daß Pucki einige ihrer Mitschüler für heute eingeladen hatte. Selbstverständlich konnten die Sechsjährigen nicht allein hinausgehen. So schlossen sich größere Geschwister an.
Die ersten Kinder, die kamen, blieben ein wenig scheu am Gartenzaun stehen, bis ein kecker Bube energisch rief:
»Wir sind da, wir wollen Kuchen und Schokolade!«
Förster Sandler und dessen Frau traten aus dem Hause und blickten voller Erstaunen die sieben Kinder an, die wartend draußen standen. Einige von ihnen kannte er, es waren Söhne und Töchter seiner Holzfäller, die nicht gerade in guten Verhältnissen lebten.
»Dann kommt mal herein in den Garten«, sagte er gutmütig.
Noch hatten diese Kinder nicht Platz gefunden, als eine neue Schar herangezogen kam, unter ihnen Thusnelda Reichert mit ihren vier Geschwistern.
»Was bedeutet denn das?« fragte bestürzt die Försterin. Schon stand Pucki vor der Mutter, hüpfte von einem Fuß auf den anderen und lachte herzlich.
»Mutti, heute hast du viel mehr Besuch als an deinem Geburtstage. Oh, wirst du dich freuen. Ich glaube ganz hinten kommen noch welche!«
»Hast du dir alle diese Kinder eingeladen?«
»Ja, Mutti, wie du es gewollt hast, damit keiner hungert. Ich habe gesagt, sie sollen alle kommen, du gibst ihnen schon was!«
»Aber Pucki, woher soll ich denn soviel Milch und Kuchen nehmen?«
»Hab keine Angst, Mutti, wir lassen die Minna noch einmal in den Kuhstall gehen, dann ist wieder ein großer Topf mit Milch da.«
Es stellten sich sogar einige Mütter ein, die ihren sechsjährigen Kindern nach dem Forsthause gefolgt waren, um gleich bei der Begrüßung Förster Sandler herzlichen Dank für die Einladung auszusprechen. Weder Sandler noch seine Frau wußten Rat. Die Schar war auf etwa zwanzig Köpfe angewachsen; kaum fanden alle im Garten Platz, um sich niedersetzen zu können. Die meisten warteten artig und bescheiden auf die Genüsse, die kommen sollten; es gab aber auch solche darunter, die nach Kuchen riefen und an einem Stück nicht genug hatten.
Minna stand in der Küche und zankte über Pucki, die in ihrer Gutmütigkeit und Unwissenheit so viele Gäste herbestellt hatte. Ununterbrochen buk sie Waffeln, doch es ging nicht so schnell, wie es eigentlich hätte gehen müssen. Wenn Frau Sandler wieder einen Teller hinaustrug, so streckten sich viele kleine Hände nach dem duftenden Gebäck aus.
Pucki stand an einem Baume und schaute mit leuchtenden Augen auf die schmausende Schar. Sie, die sonst so gern knusprige Waffeln aß, dachte heute nicht an sich. Sie glaubte, daß alle diese Kinder fürchterlichen Hunger hätten und noch niemals so gute Waffeln zu essen bekommen hätten. Das kleine Herz war übervoll von Glück, wenn sie sah, wie gut es allen schmeckte. Dort war ein kleiner, blasser Junge, der sich den Mund so voll stopfte, daß er kaum atmen konnte; dort drüben, das kleine Mädchen mit dem verbundenen Auge, leckte soeben den Zucker von den Fingerchen und sah sehr glücklich aus.
»Mutti – Mutti –« rief Pucki, »sieh nur, wie froh sie alle sind. – Sieh mal, dort der kleine Junge ißt noch schneller als unser Harras! – Ach, Mutti, ich könnte immerzu tanzen!«
»Willst du nicht auch eine Waffel essen, Pucki?«
Pucki schüttelte den Kopf. »Die Kinderchen sollen sie alle essen! – Ach, Mutti, ich möchte, sie kämen jeden Tag her und futterten sich satt!«
Frau Sandler ahnte das Glück, das in dem Kinderherzen erwachte bei dem Anblick so vieler erfreuter Kinder. – Pucki stürmte durch den Garten, unbeachtet von all den Schmausenden, klatschte in die Hände und jauchzte immer wieder:
»Wie sie alle futtern – sie werden keinen Hunger mehr haben!«
Für sie selbst schien in dem großen Forsthausgarten kein Platz zu sein. Sogar auf Holzklötzen, die man herbeigetragen hatte, saßen die Kleinen. Doch was schadete das, es schmeckte allen, und man labte sich an der guten Milch, die Frau Sandler herbeibrachte. Und über den Kindern, hoch oben in den Zweigen der Bäume, sangen die Vöglein ihre Frühlingslieder.
Pucki lief nach der Gartenpforte und verfolgte mit den Blicken eine Amsel. »Nachher sind da viele Krümchen für euch da, dann habt auch ihr es gut!« rief sie.
»Wer hat es gut?«
Hedi Sandler fuhr herum, und ihr Gesicht hellte sich auf.
»Onkel Oberförster – guck mal, alle die Kinder da habe ich eingeladen.«
»Ja, was ist denn heute bei euch los, Pucki?«
»Die Kinder habe ich mir eingeladen, Onkel Oberförster.«
»Na, das ist ja eine recht große Gesellschaft. – Kann ich nicht auch eine Waffel bekommen? Sieh mal, das sind meine beiden Jungen, die zu den Ferien heimgekommen sind und noch ein Weilchen hierbleiben müssen, weil in ihrer Schule eine böse Krankheit ausgebrochen ist.«
Mit leuchtenden Blauaugen blickte Pucki unerschrocken zu den beiden Jungen auf. Der eine war hochaufgeschossen, der andere bedeutend kleiner und ein wenig rundlich.
»Sind das deine Kinder, Onkel Oberförster?«
»Ja, das hier ist der Claus, der in der Prima sitzt, und das hier –«
Pucki lachte. »Ich weiß schon, Onkel Oberförster, das hier ist der große Claus, und das da ist der kleine Claus. Aber der große Claus gefällt mir besser als der kleine Claus.«
Claus Gregor, der Primaner, lachte belustigt auf bei den Worten des reizenden kleinen Mädchens.