»Auf mich auch!« rief Mathias eifersüchtig. »Schließlich bin ich der Mann im Haus, seitdem Vati fortgefahren ist. Nicht wahr?«
»Natürlich, Mathias!« entgegnete Ingrid lachend. »So, und nun muß ich gehen, wenn ich nicht zu spät kommen will. Gegen vier Uhr bin ich wieder daheim. Heute eßt ihr bei Frau Geit-
ner.«
»Aber sie kocht lange nicht so gut wie du, Mutti«, stellte Mathias fest. »Oft schmeckt alles so bitter.«
»Das kommt daher, daß sie das Essen sehr oft anbrennen läßt«, belehrte Kuni ihren Bruder.
Ingrid verabschiedete sich zärtlich von ihren Kindern und verließ dann schweren Herzens die kleine Wohnung. Bevor sie das Haus verließ, läutete sie noch an der Tür der Nebenwohnung und sagte Lisa Geitner, daß sie jetzt gehe.
»Ich schaue jede Stunde nach den beiden«, versprach die Nachbarin.
»Vielen Dank, Frau Geitner.« Ingrid nahm sich vor, ihr am Abend wieder eine gute Flasche Rotwein und Zigaretten mitzubringen.
Bevor Ingrid die Straße überquerte, blickte sie noch einmal nach oben. Wie jeden Tag standen die Kinder am Wohnzimmerfenster und winkten ihr nach. Ingrid winkte zurück und ging dann weiter.
Auf dem kurzen Weg zum Maibacher Krankenhaus beschäftigten sich ihre Gedanken mit ihrem Mann. Immer wieder fand sie neue Entschuldigungen für seine Handlungsweisen, die alles andere als verantwortungs- und liebevoll waren. Dabei hatte sie geglaubt, daß die Erbschaft, die ihn nach dem Tod seines Onkels nach München gerufen hatte, ein Segen für ihre Ehe werden würde. Doch bisher schien es nicht so zu sein.
Ingrid unterdrückte einen tiefen Seufzer und betrat dann das Krankenhaus. Von diesem Augenblick an war sie so beschäftigt, daß sie an nichts anderes mehr denken konnte. Das begrüßte sie jedoch sehr.
An diesem Vormittag gab es besonders viel zu tun. Das Wartezimmer der ambulanten Patienten war übervoll. Auch Justus wartete geduldig, bis er an die Reihe kam. Neben ihm saß dieselbe alte Frau, die ihm vor ein paar Tagen von Schwester Ingrid erzählt hatte. Geschickt verwickelte er sie auch an diesem Tag wieder in ein Gespräch. Nur zu gern berichtete die Frau ihm alles, was er wissen wollte.
»Ich kenne die beiden Kinder zufällig. Sie spielen an schönen Tagen in der Sandkiste bei uns hinten im Hof.
Es sind arme Kinder. Und von der
Frau Geitner, der Schwester Ingrid so großes Vertrauen schenkt, kann man leider auch nichts Gutes berichten. Wissen Sie, die Frau trinkt und raucht wie ein Schlot. Sie hatte einen Liebhaber, der sie verlassen hat. Oft ist sie so betrunken, daß sie alles anbrennen läßt. Das riecht man dann im ganzen Haus. Na ja, Frau Laurens bemüht sich ja, die Kinder im Kindergarten unterzubringen. Aber Sie wissen ja, wie das heutzutage ist. Bevor ein Kind dort einen Platz bekommt, ist es erwach-sen.«
»Man müßte den Laurens’ helfen«, brummte Justus.
»Ja, das müßte man. Aber heutzutage denkt ja jeder nur an sich selbst. Zwar heuchelt man Mitleid, doch helfen tut keiner.«
»Ich kenne Menschen, die wirklich helfen«, erwiderte Justus, war aber froh, daß die Frau im selben Augenblick aufgerufen wurde und im Sprechzimmer verschwand. Er hatte genug erfahren und wollte nun in Ruhe nachdenken.
Noch am gleichen Tag sprach Justus mit Denise. Diese war nun entschlossen, sich mit Schwester Ingrid in Verbindung zu setzen. Daß Frau Laurens Plätze für ihre Kinder im Kindergarten suchte, war ein plausibler Grund für eine Unterredung.
*
So kam es, daß Ingrid, als sie das Krankenhaus am nächsten Tag um die Mittagszeit verlassen wollte, plötzlich einer bildschönen schwarzhaarigen Dame in einem schlichten Leinenkleid gegenüberstand.
»Ich habe auf Sie gewartet, Frau Laurens«, ergriff Denise in ihrer zurückhaltenden, aber selbstsicheren Art das Wort, als sie bemerkte, daß die junge Frau sichtlich verlegen war.
»Auf mich? Aber…«
Denise nannte ihren Namen und fügte hinzu, es handle sich um ihre beiden Kinder.
»Um Kuni und Mathias? Haben die beiden etwas angestellt?« fragte Ingrid erschrocken.
»Aber nein. Ich habe von…« Denise erzählte nun, auf welche Weise sie von den Kindern gehört hatte. »Und deshalb bin ich gekommen«, fügte sie hinzu. Ingrid überlegte nicht lange und bat Denise, sie doch in ihre Wohnung zu begleiten.
»Gern.« Denise erklärte sich sofort einverstanden und betrat kurz darauf das dreistöckige Mietshaus. Kuni und Mathias begrüßten ihre Mutter stürmisch und blickten dann Denise verwundert an.
»Das ist Frau von Schoenecker, Kinder«, stellte Ingrid die Besucherin vor. »Bitte, kommen Sie doch weiter«, bat sie, öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
Auf den ersten Blick stellte Denise fest, daß die kleine Wohnung sehr gepflegt war. Dann aber konzentrierte sie sich wieder ganz auf das kleine blonde Mädchen und den dunkelhaarigen Jungen. Was für entzückende Kinder, dachte sie und war nun fest entschlossen, die beiden in Sophienlust aufzunehmen. Allerdings wußte sie noch nicht, ob Frau Laurens sich von ihren Kindern trennen würde.
Ingrid überlegte krampfhaft, was diese reizende Dame von ihr wohl wollte.
»Mutti, wir können bald essen«, sagte Kuni. »Ich habe die Kartoffeln pünktlich aufgestellt. Sie müssen bald gar sein.«
»Vielen Dank, Kuni. Sie sehen, meine Tochter ist schon sehr tüchtig.«
»Das sehe ich«, erwiderte Denise lächelnd. Danach raunte sie Ingrid zu: »Ich würde Sie gern einen Augenblick allein sprechen.«
Unter einem Vorwand schickte Ingrid ihre beiden Kinder noch schnell in das Lebensmittelgeschäft. Die beiden Frauen waren nun allein.
»Wie ich Ihnen schon sagte, gehört Sophienlust meiner Familie«, begann Denise.
»Sophienlust?« Eine steile Falte bildete sich zwischen den Brauen der jungen Frau. »Natürlich, Sophienlust!« rief sie dann. »Das ist ja das Kinderheim, von dem man wahre Wunderdinge hört.«
»Und ich glaube, nicht zu Unrecht. Die Kinder fühlen sich dort wie in einer großen Familie.«
Ingrid begriff plötzlich. Doch das würde eine Trennung von ihren Kindern bedeuten, obwohl sie sich dann keine Sorgen mehr um sie zu machen brauchte. Aber sie besaß ja auch nicht genügend Geld, um den Aufenthalt der beiden dort bezahlen zu können, stellte sie gleich danach fast erleichtert fest. Somit war sie des Zwiespalts bereits wieder enthoben.
»Wir würden Kuni und Mathias gern dort aufnehmen«, sagte Denise nun.
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber es ist unmöglich. Leider bin ich nicht mit irdischen Gütern gesegnet«, erklärte Ingrid. Es sollte scherzhaft klingen, aber das gelang ihr nicht ganz. Denn auf einmal hatte sie das heftige Verlangen, dieser gütigen Dame mit den
dunklen Augen, in denen sie nur Verständnis las, ihr Herz auszuschütten. Wie von selbst kamen ihr die weiteren Worte über die Lippen.
»Ich bin nicht sehr glücklich«, begann sie zögernd. »Mein Mann hat seine Stelle in der Rechtsanwaltskanzlei hier in Maibach aufgegeben, weil er die Anwaltspraxis eines Onkels in München geerbt hat. Er muß jedoch erst eine Wohnung für uns suchen, damit wir nachkommen können.« Ingrid verschwieg, daß ihr Mann auch ein Haus geerbt hatte, das groß genug war, um sie alle aufzunehmen. Dafür erklärte sie: »Das kann noch etwas dauern. Solange nicht alle Erbschaftsangelegenheiten geregelt sind, muß ich noch arbeiten gehen. Mein Mann kann mir in dieser Zeit kein Geld schicken.« Doch im selben Augenblick, als sie das aussprach, wurde ihr wieder einmal bewußt, daß Guido ihr Geld hätte schicken können, wenn er das tatsächlich gewollt hätte.
An Ingrid Laurens’ unsicherer Stimme erkannte Denise, wie sehr sich die junge Frau bemühte, ihren Mann