Nick kam langsam angeschlendert und erzählte Peter alles Wissenswerte über Kuni und Mathias Laurens. Interessiert hörte ihm der kleine Junge zu. Es war so, als ahnte er bereits, was das Schicksal vorhatte.
*
Ingrid hatte sich am Wochenende frei nehmen können. Um Geld zu sparen, hatte sie am Donnerstagabend eine Karte an Denise geschrieben und ihr ihre genaue Ankunft am Bachenauer Bahnhof mitgeteilt.
Frau Rennert, die sofort Denise anrief, um ihr von der Karte zu berichten, teilte den Kindern, als sie aus der Schule kamen, mit, daß am Sonn-
abendvormittag Frau Laurens mit den Kindern eintreffen würde.
»Ob Kuni und Mathias gleich dableiben werden?« fragten Pünktchen und Angelika aufgeregt.
»Vielleicht«, meinte Schwester Regine. »Auf alle Fälle werde ich für die beiden Kinder das Eckzimmer herrichten. Es ist das größte Zimmer, so daß die beiden sich in keiner Weise beengt fühlen werden.«
»Und für Frau Laurens bereiten wir das blaue Fremdenzimmer vor«, bestimmte Frau Rennert.
»Gut, ich mache mich gleich an die Arbeit«, bot sich das Stubenmädchen Ulla an.
Von dieser Stunde an bildeten die Laurens natürlich das Hauptthema für die Sophienluster Kinder.
Aber auch Kuni und Mathias waren sehr aufgeregt. Der Gedanke, auf einem großen Gut mit anderen Kindern spielen zu können, versetzte sie in übermütige Stimmung.
Ingrid schaute die Garderobe ihrer Kinder durch. Das Ergebnis war niederschmetternd. Nur schweren Herzens tat sie einen tiefen Griff in ihren Geldbeutel und kaufte für Kuni ein neues Kleidchen und weiße Schuhe. Mathias bekam neue lange Kordhosen und einen weißen Sommerpulli, er wünschte sich rote Schuhe dazu.
Am Freitagabend beteten beide, daß am nächsten Tag schönes Wetter sein möge. Dieser Wunsch wurde ihnen erfüllt. Als sie am Morgen die Augen aufschlugen, zeigte der Himmel sein schönstes Blau. Kein Wölkchen war weit und breit zu sehen.
»Du siehst, wenn Engel reisen, scheint die Sonne«, sagte Kuni altklug und schlüpfte selig in ihr neues Kleid-chen. Es war himmelblau und mit Margeriten bedruckt. Durch diese Farben kamen ihr leichtgebräunter Teint sowie die braungebrannten Arme und Beine gut zur Geltung. Aber auch Mathias sah ganz allerliebst in seinen neuen Sachen aus.
Ingrid musterte ihre Kinder zufrieden und zog sich dann selbst an. Zu einem dunkelblauen Faltenrock wählte sie einen ärmellosen weißen Pulli, der am Ausschnitt hellblau eingefaßt war. Ihr langes braunes Haar, das sie während der Dienstzeit als Krankenschwester stets aufgesteckt trug, fiel nun weich auf ihre Schultern.
»Du siehst sehr schön aus, Mutti«, stellte Kuni entzückt fest. »Müssen wir unsere Regenmäntel mitnehmen?«
»Auf alle Fälle ist es besser. Du weißt, daß ein Tag, der mit einem so strahlend-blauen Himmel beginnt, oft mit einem Regenguß endet.«
»Bleiben wir über Nacht in Sophienlust?« wollte Mathias noch wissen.
»Vielleicht. Das kommt ganz darauf an. So, nun schaue ich noch schnell nach, ob auch der Gashahn abgedreht ist. Dann müssen wir los, damit wir den Zug nach Bachenau nicht versäumen.«
Eine gute halbe Stunde später saßen die drei in einem Abteil des Lokalzuges. Als er langsam anfuhr, standen Mathias und Kuni mit vor Glück strahlenden Augen am Abteilfenster. »Schau, Mutti, dort gibt es Pferde. Ganz viele«, begeisterte er sich.
Ingrid schaute ebenfalls aus dem Fenster, vor dem das Landschaftsbild schnell wechselte. Wiesen und Wälder flogen vorbei, einzelne Gehöfte tauchten wie Schemen auf, um sogleich wieder zu verschwinden. Aber die junge Frau konnte sich an diesen reizvollen Bildern nicht erfreuen. Ohne Guido hatte sie an allem nur die halbe Freude. Wenn er doch wenigstens schreiben würde, dachte sie traurig. Doch er schrieb nicht und schickte ihr auch keinen Pfennig Geld, wie er ihr fest versprochen hatte.
Deutlich sah Ingrid das schöne Gesicht ihres Mannes vor sich, fühlte seine Nähe fast körperlich. Die Sehnsucht nach dem Mann, der sie so bitter enttäuscht hatte, war ihr selbst unverständlich. Immer wieder sagte sie sich, daß er ihre Liebe nicht verdiene, daß es das beste sei, sich von ihm zu tren-
nen.
Dann aber dachte sie an ihre Kinder, die sehr an ihrem Vater hingen. Hatte sie das Recht, ihnen den Vater zu nehmen? Nein und nochmals nein! Und sie selbst? Wollte sie denn wirklich von ihm fort? Auch diese Frage konnte sie nur verneinen. Wider aller Vernunft liebte sie ihren Mann immer noch. Eines Tages würde er vernünftiger und ruhiger werden. Hoffentlich.
Tränen brannten plötzlich unter Ingrids Lidern. Die meisten Menschen freuten sich über eine Erbschaft. Aber sie konnte sich nicht freuen. Hätte Guido die Anwaltspraxis und das Haus in München nicht geerbt, wäre er zweifellos noch bei ihr. Dann würden sie eine glückliche Ehe führen, überlegte sie. Aber würde es wirklich so sein?
Auf einmal war Ingrid fest entschlossen, Kuni und Mathias in Sophienlust zu lassen. An ihrem nächsten freien Wochenende würde sie dadurch endlich nach München fahren können, um sich an Ort und Stelle mit Guido auszusprechen. Sie würde dann auch dafür sorgen, daß sie schon in absehbarer Zeit mit den Kindern in das geerbte Haus einziehen konnten.
Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Die Zukunft lag wieder hell vor ihr. Sie durfte alles nicht so schwer nehmen, sagte sie sich. Wenn Guido erst merkte, daß sie sich seinem leichten Lebensrhythmus anpaßte, würde ihre Ehe wieder so glücklich werden wie in dem ersten Jahr, als sie noch keine Kinder hatten. Vielleicht würde sie Kuni und Mathias noch etwas länger in Sophienlust lassen können – so lange, bis Guido und sie wieder zusammengefunden hatten, bis die Harmonie, die früher ihr Beisammensein bestimmt hatte, wieder entscheidend für sie beide geworden war.
Je näher sie Bachenau kamen, desto ausgelassener wurde Ingrid. Mit strahlenden Augen stieg sie dann aus dem Zug aus. Kuni und Mathias schauten sich aufgeregt um und erstarrten vor Bewunderung, als ein livrierter Chauffeur sie fragte, ob sie Laurens hießen.
Dann saßen die drei in dem großen Wagen, der lautlos durch die Straßen glitt und schließlich eine mit Apfelbäumen eingesäumte Landstraße entlangfuhr.
Respektvoll blickten Kuni und Mathias auf den breiten Rücken des so vornehm aussehenden Chauffeurs. Aber sie wagten es nicht, irgendeine Bemerkung über ihn fallenzulassen.
Ingrid verkniff sich ein Lächeln, denn sie kannte ihre Kinder gut genug, um zu wissen, was sie bewegte. Aber auch sie war tief beeindruckt von dem Wagen und dem hochherrschaftlichen Chauffeur.
»Dort vorn sehen Sie schon das Herrenhaus von Sophienlust«, erklärte der Chauffeur Hermann jetzt und wandte sich einen Augenblick um.
»Oh, Mutti, das ist ja ein Schloß«, rief Kuni.
»Schaut doch!« jubelte Mathias. »Dort hinten auf den Wiesen sehe ich viele kleine Pferde. Sind das alles junge Pferde?«
»Nein, das sind Ponys. Die großen Pferde und die Fohlen siehst du weiter hinten«, erläuterte Hermann, der schon unzähligemale ähnliche Begeisterungsrufe von Kindern vernommen hatte. Er gehörte ja auch zum alten Bestand der großen Sophienluster Familie.
Das Sonnenlicht fiel voll auf die Fassade des einstöckigen schloßähnlichen Herrenhauses, als der Wagen durch das Tor in den Gutshof einfuhr. Den Laurens’ bot sich ein reizendes Bild. Heckenröschen rankten sich zu beiden Seiten der Freitreppe, auf der eine große Kinderschar versammelt war, empor. Die beiden Hunde Anglos und Barri standen auf der untersten Stufe und warteten ebenso gespannt auf die Ankunft der Gäste wie die Kinder.
»Der große schwarze Hund ist eine Dogge und der braunweiße ein Bernhardiner«, erklärte Ingrid ihren Kindern.
»Ich weiß das, Mutti«, bekam sie von ihrem Töchterchen zur Antwort. »Ich habe doch das Hundebuch geschenkt bekommen. Meinst du, daß die Hunde beißen?« fragte sie ängstlich.
»Das glaube ich kaum, sonst ließe