»Also weißt du, Robert, du solltest mit deinen Kindern mal ein ernstes Wort sprechen«, meinte Irene, als sie beim nachmittäglichen Kaffee und Kuchen saßen. »Das ist jetzt schon das vierte Wochenende, daß sie in München verbringen. Ich finde…«
»Ach komm, Irenchen, was sollen die beiden denn jedes Wochenende hier herkommen«, verteidigte Dr. Daniel seine Kinder, obwohl auch er immer sehr enttäuscht war, wenn die beiden in München blieben. Er vermißte sie oft ganz entsetzlich.
»Das sind ja völlig neue Töne«, stellte Irene auch schon fest. »Normalerweise bist du derjenige, der jammert, wenn sie nicht heimkommen, aber…«
Das Klingeln an der Tür unterbrach Irenes Redefluß. In ihren Augen leuchtete es auf. »Vielleicht kommen sie jetzt doch noch.«
Das bezweifelte Dr. Daniel. Wenn Karina und Stefan am Freitagnachmittag nicht heimkamen, dann blieben sie für gewöhnlich das ganze Wochenende über weg. Außerdem hatte Karina angerufen und mitgeteilt, daß sie nicht nach Steinhausen fahren würden – offiziell wegen der schlechten Straßenverhältnisse.
Inzwischen war Irene hinausgegangen und hatte die Tür geöffnet.
»Ja, bitte, Sie wünschen?« hörte Dr. Daniel sie fragen.
»Kann ich den Herrn Doktor bitte sprechen?« Beim Klang der ungewöhnlich tiefen Frauenstimme runzelte Dr. Daniel nachdenklich die Stirn. Irgendwo hatte er diese Stimme schon mal gehört, aber er kam nicht drauf, wo das gewesen sein könnte.
»Natürlich«, antwortete Irene. »Bitte, kommen Sie mit ins Wohnzimmer. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten.«
»Ja, gern.«
Jetzt trat die Fremde herein, und Dr. Daniel erhob sich, um sie zu begrüßen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne.
»Prinzessin…«, stammelte er, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. Das konnte doch nur eine Täuschung…, eine zufällig Ähnlichkeit sein!
Doch die elegante Dame lächelte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Herr Doktor.«
»Aber… Ihr Vater sagte…« Er war so verwirrt, daß er den Satz nicht zu Ende brachte.
»Ich kann mir denken, was mein Vater gesagt hat. Und er hat auch nicht gelogen. Ich gelte offiziell als tot.« Sie reichte dem noch immer völlig verblüfften Dr. Daniel die Hand. »Darf ich mich vorstellen? Inge Herzog.«
Dr. Daniel zuckte zusammen. »Herzog? Inge Herzog?«
Die Dame nickte. »Ich bin Inge Herzog und verheiratet mit Karl Herzog.« Sie lächelte. »Mir scheint, der Name sagt Ihnen etwas.«
Dr. Daniel trat an den Wohnzimmerschrank, öffnete eine Schublade und zog nach kurzem Suchen einen Zettel heraus.
»Karl und Inge Herzog«, las er vor. »Schützenallee, Freiburg.« Er sah die elegante Dame vor sich an. »Aber…, das kann doch nicht wahr sein. Prinzessin…, Sie…«
»Inge«, berichtigte sie. »Sagen Sie einfach Inge zu mir. Prinzessin Alix ist tot – offiziell und auch in meinem Herzen.« Sie zögerte. »Darf ich mich setzen?«
Mit einer fahrigen Handbewegung bot Dr. Daniel ihr Platz an.
»Ich hole jetzt den Kaffee«, erklärte Irene, die die ganze Szene verständnislos verfolgt hatte.
»Ich begreife das alles immer noch nicht«, gestand Dr. Daniel.
»Ich werde es Ihnen erklären«, versprach Inge Herzog. »Aber machen Sie sich auf eine abenteuerliche Geschichte gefaßt.«
Irene servierte den Kaffee, dann zog sie sich diskret zurück und ließ ihren Bruder mit seinem Besuch allein.
Inge griff nach der Tasse und trank einen kleinen Schluck, dann lehnte sie sich zurück.
»Mein Vater hat mir meine Kinder weggenommen, und das habe ich ihm nie verziehen«, begann Inge zu sprechen. »Bei Leandra hatte ich keine Chance herauszubekommen, wo sie war. Alles war von meinem Vater bestens arrangiert worden. Nicht so bei Ahilleas. Er war nicht geplant, und so vergingen ein paar Tage, bis er von einem Freiburger Ehepaar adoptiert wurde. Ich selbst wurde auf unseren Landsitz nach Frankreich abgeschoben und hatte in meinem Onkel einen strengen Aufpasser. Doch es gab auch einen Verbündeten für mich: Gustav.«
»Der Butler!« Allmählich begann Dr. Daniel zu verstehen. Der Butler Gustav hatte ihn empfangen, als er nach Schloß Hoheneck gekommen war, und ihm gegenüber hatte er ja verlauten lassen, daß er den Fürsten wegen Prinzessin Alix sprechen wollte. Vielleicht hatte Gustav sogar gelauscht und mitgehört, warum es gegangen war.
Inge lächelte. »Ihr Gedankengang ist ausgezeichnet, Herr Doktor. Gustav hatte seine Ohren schon immer überall, und er verehrte mich wie eine Göttin. Die Tatsache, daß mir durch die Wegnahme meiner Kinder ein so tiefer Schmerz zugefügt worden war, ließ Gustav zu Vaters erbittertstem Feind werden. Er wollte mir nach Frankreich folgen, doch ich flehte ihn an, auf Hoheneck zu bleiben und herauszubekommen, was aus Ahilleas wurde.«
Sekundenlang hielt Dr. Daniel den Atem an. »Heißt das…, Sie wissen, wo Ahilleas ist?«
Inge nickte. »Und ob ich das weiß. Er ist mein Sohn, und seit fünf Jahren leben wir auch zusammen. Vorher besuchte ich ihn regelmäßig.«
Völlig fassungslos schüttelte Dr. Daniel den Kopf. Er konnte das alles immer noch nicht fassen.
»Warum suchen Sie so verzweifelt nach Ahilleas und mir?« fragte Inge jetzt und riß den Arzt aus seinen Gedanken.
Überrascht sah er sie an. »Das wissen Sie nicht? Ich dachte, Gustav hätte alles gehört.«
»Nein, leider nicht«, entgegnete Inge. »Meine Mutter hat ihn zu sich gerufen, bevor er etwas wirklich Wichtiges verstehen konnte.«
Dr. Daniel wurde ernst. »Es sind schlimme Nachrichten, die ich für Sie habe, Prinzessin…, ich meine, Inge.«
Die Frau erschrak sichtlich. »Ist Leandra… tot?«
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist noch am Leben, aber sie ist schwer krank. Sie leidet an Leukämie, und wenn nicht bald eine Knochenmarktransplantation durchgeführt wird, dann stirbt sie. Sie hat schon jetzt keinen Lebenswillen mehr, denn der einzige Wunsch, den sie noch hatte, erfüllte sich leider nicht für sie. Sie wollte unter allen Umständen ein Baby. Deshalb kam sie zu mir.«
Inge sprang auf. »Ich muß sofort zu ihr!«
»Ich glaube, das wäre nicht richtig«, wandte Dr. Daniel ein. »Das Mädchen weiß nichts über seine Herkunft. Es ist sicher besser, wenn ich zuerst mit Leandra spreche – allein.«
Inge nickte zerstreut. Ihre Gedanken waren schon wieder bei der schweren Krankheit ihrer Tochter.
»Diese Transplantation…, warum wurde die nicht schon früher gemacht, wenn es für Leandra die einzige Überlebenschance ist?«
»Genau aus diesem Grunde habe ich Sie und Ahilleas gesucht. Man braucht dazu nämlich einen nahen Verwandten – die Mutter, oder noch besser Geschwister des Patienten, weil sonst die Gefahr der Abstoßung besteht.« Er schwieg einen Moment, dann fragte er: »Ist Ahilleas auch hier?«
Inge schüttelte den Kopf. »Wir leben auf Kreta – der Heimat meines Mannes. Aber ich kann Ahilleas sofort herkommen lassen, wenn es nötig ist.«
Dr. Daniel nickte. »Die Chancen für Leandra stünden besser, wenn er ebenfalls hier wäre. Sie können gleich von hier aus telefonieren, wenn Sie möchten.«
Dankbar nahm Leandra das Angebot an. Es war nur ein kurzes Gespräch, dann legte sie auf, während sich Dr. Daniel erhob.
»Wir beide sollten vielleicht sofort in die Klinik fahren«, schlug er vor. »Und auf dem Weg dorthin können Sie mir erzählen…« Er stockte. »Tut mir leid, ich wollte nicht indiskret sein…«
Inge lächelte. »Aber ich bitte Sie,