Dr. Scheibler erwartete sie schon. Er war noch immer in ziemlich gedrückter Stimmung, weil Professor Thiersch ihn wegen der unterlassenen Mammographie fürchterlich zusammengestaucht hatte.
»So, Frau Burgner, jetzt müssen wir die Untersuchung doch noch nachholen«, meinte er, während er Silvia zum Röntgenraum begleitete. »Anschließend gehen Sie dann bitte zur Aufnahme, damit die Formalitäten für den stationären Aufenthalt erledigt werden können.«
Richard Burgner fiel bei diesen Worten wie aus allen Wolken.
»Wollen Sie Silvia etwa hierbehalten?« fragte er entsetzt.
»Ja« entgegnete Dr. Scheibler. »Das wußten Sie doch. Ich nehme an, Dr. Daniel hat Ihnen den Grund dafür mitgeteilt.«
»Aber das geht nicht!« widersprach Richard heftig. »Meine Güte, wir haben zwei kleine Kinder daheim. Und ich muß morgen früh wieder ins Büro.«
»Hören Sie, Herr Burgner«, versuchte Dr. Scheibler den aufgeregten jungen Mann zu beruhigen. »Wir behalten Ihre Frau ja nicht monatelang hier. Es ist ein relativ harmloser Eingriff, und in einer Woche ist Ihre Frau wieder zu Hause.«
»Eine Woche!« stieß Richard Burgner hervor. Hilfesuchend sah er seine Frau an. »Silvia, das ist ja…, das geht doch gar nicht.«
Dr. Scheibler war trotz seiner Jugend die Ruhe und Güte in Person, aber dieser junge Mann brachte ihn gehörig auf die Palme.
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Herr Burgner!« erklärte er mit unüberhörbarer Schärfe in der Stimme. »Es ist für Ihre Frau schlimm genug, daß sie diese Operation hinter sich bringen muß. Da müssen Sie es ihr nicht noch schwerer machen. Sie werden doch wohl eine Woche lang für sich selbst sorgen können.«
Der junge Mann errötete bis unter die Haarwurzeln.
»Sie dürfen nicht so streng sein, Herr Doktor«, mischte sich Silvia ein. »Mein Mann ist gerade dabei, sich selbständig zu machen. Seit einem halben Jahr hat er gearbeitet wie ein Bär. Das ist nun alles umsonst, wenn er eine Woche zu Hause bleiben und für die Kinder sorgen muß.«
Jetzt war es an Dr. Scheibler zu erröten.
»Das wußte ich nicht«, brachte er ein wenig mühsam hervor, dann sah er Richard Burgner an. »Es tut mir leid, daß ich so heftig geworden bin.« Er zuckte die Schultern. »Tatsache bleibt aber, daß wir Ihre Frau hierbehalten müssen. Der Tumor ist im Augenblick zwar gutartig, aber es kommt immer wieder vor, daß sich das Gewebe plötzlich bösartig verändert. Und darauf wollen wir es ja nicht ankommen lassen.«
Niedergeschlagen ließ sich Richard auf den nächstbesten Stuhl fallen.
»Deine Gesundheit geht allemal vor, Silvia«, erklärte er leise. »Mach dir keine Sorgen. Ich schaffe das schon irgendwie.«
Dabei war sein Gesichtsausdruck nicht gerade dazu angetan, sich keine Sorgen zu machen.
»Gibt es niemanden, der Ihre Kinder tagsüber versorgen kann?« fragte Dr. Scheibler.
Richard Burgner schüttelte den Kopf. »Im Augenblick sind sie bei unserer Nachbarin, aber die ist über siebzig. Zwei kleine Kinder über längere Zeit zu betreuen, ist einfach zuviel für sie.«
»Und… keine Großeltern in der Nähe?«
Wieder schüttelte Richard den Kopf. »Ich selbst bin im Waisenhaus aufgewachsen, und meine Schwiegereltern sind seit vielen Jahren tot. Wir haben keine Verwandtschaft, Herr Doktor, und bisher waren wir ganz froh darüber. Man spart sich eine Menge Ärger.« Der kleine Scherz, den er versucht hatte, mißlang gründlich. Niemand konnte darüber auch nur lächeln. Dazu war die Lage viel zu ernst.
»Wie alt sind Ihre Kinder denn?« wollte Dr. Scheibler wissen. Ihm war der Gedanke gekommen, daß die Burgner-Kinder tagsüber vielleicht hier betreut werden konnten. Womöglich gingen sie ja schon zur Schule, waren also bereits einen halben Tag beschäftigt und die restliche Zeit…
»Zwei und vier«, antwortete Richard.
Im selben Moment verwarf Dr. Scheibler seinen Plan wieder. Kinder in diesem Alter brauchten nahezu rund um die Uhr jemanden. So etwas konnte er den Schwestern hier nicht zumuten. Sie hatten ohnehin Arbeit genug.
»Herr Doktor«, mischte sich Silvia jetzt ein. »Könnte ich denn nicht gleich operiert werden? Ich habe gestern abend zum letzten Mal etwas gegessen.« Sie zuckte die Schultern. »Damit würden wir doch ein paar Tage gewinnen.«
»Ich glaube, das ändert nicht viel an dem grundsätzlichen Problem«, befürchtete Dr. Scheibler. »Außerdem muß zuerst die Mammographie gemacht werden. Bis wir die Aufnahmen haben, vergeht ein Tag. Wir könnten also frühestens am Freitag operieren, aber so etwas macht der Chefarzt nur in Notfällen, weil über das Wochenende nur ein Arzt in der Klinik ist.«
»Aber bei uns wäre es doch ein Notfall«, meinte Silvia.
Dr. Scheibler mußte lächeln. »Sie kennen den Herrn Professor nicht. Der versteht unter einem Notfall etwas völlig anderes.«
»Und wenn ich nach der Mammographie nach Hause fahre und am Montagfrüh wiederkomme?« schlug Silvia vor, doch auch diesmal schüttelte Dr. Scheibler den Kopf.
»Tut mir leid, Frau Burgner, aber da spielt der Chef nicht mit«, meinte er. »Wir brauchen Zeit für die Operationsvorbereitung. Wenn Sie am Montag operiert werden wollen, müssen Sie hierbleiben.«
Silvia senkte den Kopf. »Wie groß ist die Möglichkeit, daß der Tumor bösartig wird?«
Dr. Scheibler umging eine direkte Antwort. »Ich weiß, woran Sie denken, aber da muß ich Ihnen dringend abraten. Mit einer solchen Geschichte ist nicht zu spaßen, und weder ihrem Mann noch Ihren Kindern wäre geholfen, wenn Sie die Operation jetzt ablehnen und in einem halben Jahr mit Krebs hierher zurückkommen.«
Silvia und Richard tauschten einen Blick, dann hob Richard hilflos die Schultern.
»Deine Gesundheit ist wichtiger«, wiederholte er. »Bleib hier in der Klinik, Silvia. Ich schaffe es schon irgendwie.«
*
Völlig niedergeschlagen kam Christian Schütz zu Dr. Daniel in die Praxis. Die erstaunten Blicke der im Wartezimmer sitzenden Patientinnen störten ihn nicht weiter. Seine Gedanken beschäftigten sich nur mit Leandra und der Tatsache, daß er ihren Zwillingsbruder einfach nicht finden konnte.
»Sie müssen sich ein wenig gedulden«, meinte die freundliche Sprechstundenhilfe. »Dr. Daniel muß sich erst um seine Patientinnen kümmern.«
Christian nickte. »Das ist ja klar. Außerdem habe ich viel Zeit – mehr als genug.«
Es wurde dann auch fast Mittag, bis die letzte Patientin gegangen war und Christian ins Sprechzimmer gerufen wurde. Er begrüßte Dr. Daniel, dann ließ er sich mit einem tiefen Seufzer auf einen der beiden Sessel fallen, die vor dem Schreibtisch standen.
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte er leise auf. »Herr Doktor, ich weiß nicht weiter. Dieser Ahilleas bleibt unauffindbar, und Leandra verfällt von Tag zu Tag mehr. Seit sie die Hoffnung auf ein Baby aufgeben mußte, sieht sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr. Dabei behauptet Professor Thiersch, daß die Medikamente bei ihr gut anschlagen, aber solange der Lebenswille fehlt…« Er zuckte hilflos die Schultern, dann wurden seine Augen feucht. »Und mich will sie auch nicht mehr sehen.«
»Ich weiß, Herr Schütz«, entgegnete Dr. Daniel. »Professor Thiersch hat mich gestern angerufen. Und ich selbst bin sogar noch einmal zu Fürst Bernhard nach Schloß Hoheneck gefahren, aber er empfängt mich nicht mehr. Und ich glaube auch nicht, daß er Ahilleas’ derzeitigen Aufenthaltsort kennt.« Dr. Daniel seufzte. »Ich fürchte, wir stecken in einer Sackgasse, und nur der Zufall kann uns jetzt noch helfen.«
Mit brennenden Augen sah Christian ihn an. »Glauben Sie daran?«
»Wenn