Bei seinem Eintreten richtete sich Susanne auf und schaltete das Licht hinter ihrem Bett an.
»Habe ich Sie geweckt?« fragte Dr. Kastner ein wenig verlegen. »Das wollte ich nicht.«
»Nein, ich war noch wach«, entgegnete Susanne. »Bis vor ein paar Minuten habe ich noch gelesen.« Dann runzelte sie nachdenklich die Stirn. »Ich weiß, daß ich Sie schon einmal gesehen habe, aber…«
Dr. Kastner lächelte. »In Zivil sehe ich wohl ein bißchen anders aus als in meinem weißen Kittel. Möglicherweise waren Sie auch von der Narkose noch benommen.«
Und plötzlich erinnerte sich Susanne. »Sie sind der nette Arzt, der an meinem Bett saß, als ich aufgewacht bin.«
Dr. Kastner errötete. »Danke für den netten Arzt.« Er zögerte einen Moment. »Ich saß aber nicht nur an Ihrem Bett, als Sie wach wurden…, ich habe Sie auch operiert. Kastner ist mein Name. Bernd Kastner.«
Susanne streckte die rechte Hand aus. »Freut mich, Herr Dr. Kastner.« Sie sah ihn abwartend an, doch als er keine Anstalten machte, sie zu untersuchen oder auch nur etwas zu sagen, ergriff sie selbst das Wort. »Sind Sie gekommen, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen?«
»Nein… das heißt, ja, natürlich«, verbesserte er sich rasch. Irgendwie mußte er sein Hiersein zu dieser späten Stunde ja erklären. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Susanne lächelte. Der Arzt war ihr sehr sympathisch… Nein, sogar mehr als das. Sie fühlte sich auf seltsame Weise zu ihm hingezogen.
»Das war unnötig«, meinte sie. »Ich fühle mich ausgezeichnet. Und meiner Kleinen geht’s auch gut.« Ein zärtliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Die Schwester hat sie mir vorhin gebracht, damit ich sie mir genau anschauen konnte. Gleich nach der Operation habe ich ja kaum etwas mitbekommen.«
»Sie ist ein ganz süßes Baby«, urteilte Dr. Kastner.
Leise Melancholie breitete sich auf Susannes Zügen aus. »Ich wünschte, ich könnte sie bei mir im Zimmer haben, so wie die anderen Mütter auch.«
»Nur Geduld, Frau Hartwig«, meinte Dr. Kastner. »Das kommt noch. Aber im Augenblick muß Ihre kleine Stefanie rund um die Uhr versorgt werden. Allerdings sollten Sie sich so oft wie möglich bei ihr aufhalten. Gerade Frühgeborene brauchen eine Menge Streicheleinheiten.«
Susanne nickte. »Das hat die Kinderärztin auch gesagt. Und ich werde jede freie Minute bei Stefanie verbringen, wo ich vor der Geburt schon so nachlässig war.«
»Ja, ich hörte daß Sie die Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrgenommen haben.« Dr. Kastner wurde ernst. »Damit sind Sie ein großes Risiko eingegangen. Wenn Dr. Daniel nicht so schnell reagiert hätte, dann wäre es für Ihr Baby vielleicht zu spät gewesen.«
Bei diesen Worten fuhr Susanne der Schreck sogar jetzt noch in alle Glieder.
»Ich werde so etwas nie wieder tun«, schwor sie, dann fiel ihr ein, daß sie nur schwerlich wieder in eine solche Lage würde geraten können.
Schließlich war Stefanie ein uneheliches Kind, und es war nicht zu erwarten daß sie jemals wieder schwanger werden würde.
»Was ist denn los, Frau Hartwig?« fragte Dr. Kastner besorgt. »Sie sehen plötzlich so traurig aus.«
Susanne seufzte. »Mir fiel gerade ein, daß ich wohl kaum ein zweites Baby werden haben können.«
»Wegen des Kaiserschnitts?« Dr. Kastner winkte ab. »Das ist doch Unsinn, Frau Hartwig! Selbstverständlich können Sie weitere Babys bekommen, und das nächste kommt vielleicht ganz normal zur Welt.«
»Das ist es nicht«, entgegnete Susanne mit leiser Melancholie. »Ich… bin nicht verheiratet. Stefanie ist das Ergebnis einer… Vereinbarung. Ich wollte ein Baby, aber keinen Mann.«
Völlig konsterniert starrte Dr. Kastner sie an. So etwas hatte er noch nie erlebt, und unwillkürlich fragte er sich, was das für ihn bedeutete. Denn das rasende Herzklopfen, das er in Susannes Nähe hatte, war kaum anders zu deuten, als daß er sich auf den ersten Blick in sie verliebt hatte.
*
Am Donnerstag abend machte sich Dr. Daniel auf den Weg zu dem Ehepaar Stöber, um das längst fällige Gespräch zu führen. Die beiden erwarteten den Arzt auch schon, und Darinka war ebenfalls dort. Doch sie stand auf, als Dr. Daniel eintrat. »Ich glaube, ich gehe besser auf mein Zimmer«, meinte sie und konnte nicht verhindern, daß sich eine verräterische Röte auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Dr. Daniel verstand diese Verlegenheit nur zu gut. Schließlich ging es ja um ihre intimsten Probleme, über die Dr. Daniel mit ihren Großeltern sprechen wollte.
»Das ist in Ordnung, Darinka«, meinte er, legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie einen Augenblick an sich. »Keine Sorge, es kommt alles in Ordnung«, flüsterte er ihr dabei zu.
»Danke, Herr Doktor«, entgegnete sie ebenso leise, dann verließ sie das Wohnzimmer, während Dr. Daniel auf Konrad Stöbers Aufforderung hin Platz nahm.
»Also, Herr Doktor, worüber möchten Sie mit uns sprechen?« fragte er, dann brachte er ein Lächeln zustande. »Ich kann mir nämlich kaum vorstellen, was ein Frauenarzt von uns wollen könnte.«
»Es geht um Darinka«, kam Dr. Daniel gleich zur Sache. »Sie war am Montag bei mir in der Praxis.«
»Davon weiß ich ja gar nichts«, erklärte Martha Stöber erstaunt. »Was wollte das Kind denn bei Ihnen?«
»Tja, Frau Stöber, ich fürchte, das ist genau der Punkt. Sie scheinen übersehen zu haben, daß Darinka kein kleines Kind mehr ist. Sie kam zu mir, weil sie ihre Tage bekommen hatte.«
Martha Stöber errötete bis unter die Haarwurzeln, was Dr. Daniel nicht nur bemerkte, sondern auch zu deuten wußte. Es war ihr sichtlich unangenehm, daß er ein solch intimes Thema anschnitt.
»Das Mädchen hatte Todesangst«, fuhr Dr. Daniel unbeirrt fort. »Sie war der festen Meinung, sterben zu müssen, weil sie sich das viele Blut, das sie plötzlich verlor, nicht erklären konnte.«
Martha Stöber zuckte die Schultern. »Na ja, jetzt weiß sie offensichtlich, was da los ist. Wir mußten das damals auch alles allein herausfinden.«
»Damals galten noch andere Regeln«, wandte Dr. Daniel ein. »Die Leute hielten alles, was mit dem Unterleib zusammenhing, für unanständig. Heute weiß jeder, daß das nicht stimmt. Und es ist dringend nötig, ein Mädchen in Darinkas Alter aufzuklären. Sie könnte sich mit einem jungen Mann einlassen, ohne zu wissen, wie ein Kind entsteht.«
»Das würde ich ihr nicht raten«, ließ sich Konrad Stöber vernehmen. »Sie ist erst zwölf. In diesem Alter hat man mit jungen Männern noch nichts zu schaffen.«
»Heutzutage schon«, entgegnete Dr. Daniel ernst. »Es ist keine Seltenheit, daß ich fünfzehnjährigen Mädchen die Pille verschreibe, weil sie schon einen festen Freund haben. Und so mit zwölf, dreizehn Jahren beginnt bei Mädchen nun mal das Interesse für das andere Geschlecht. Außerdem… es sind ja nicht nur die normalen Jungen-Mädchen-Beziehungen, über die Darinka Bescheid wissen sollte. Es gibt leider auch viele Männer, die so jungen Mädchen Gewalt antun.«
Wieder errötete Martha Stöber. »Aber über so etwas kann man doch nicht sprechen!«
»Man kann schon«, entgegnete Dr. Daniel, »aber ich sehe natürlich ein, daß Sie noch anders erzogen wurden und Ihnen derartige Themen schwer über die Lippen kommen. Dann sollten Sie aber zulassen, daß Darinka altersgerechte Zeitschriften liest. Es gibt heutzutage eine Menge Jugendmagazine, die Aufklärung betreiben.« Er lächelte. »Meine Tochter hat diese Zeitschriften nahezu verschlungen, als sein Darinkas Alter war.«
Völlig