Dr. Daniel nickte, als könnte sein Freund das sehen. »Ich wußte damals nicht, wohin, und Kurt hat sich in den vergangenen Jahren als ein echter Freund erwiesen.«
»Das glaube ich gern«, meinte Dr. Sommer. »Aber warum bist du damals eigentlich nicht zu mir gekommen? In meiner Klinik wärst du auch herzlich willkommen gewesen, und du warst schon immer mein bester Freund. Ich will ehrlich sein – ich war ein bißchen gekränkt, als ich von deiner Flucht aus Steinhausen hörte und feststellen mußte, daß du Kurt Gebhardt mir vorgezogen hast.«
»Kannst du dir den Grund dafür wirklich nicht denken?« fragte Dr. Daniel zurück. »Sei mir nicht böse, Schorsch, aber wenn ich zu dir gegangen wäre, dann hätte ich ebensogut in Steinhausen bleiben können. In deiner Klinik kamen Stefan und Karina zur Welt. Damals war dein Vater noch Chefarzt.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann meinte Dr. Sommer: »Natürlich. Daran hätte ich denken müssen.« Wieder machte er eine kleine Pause. »Robert, hast du heute abend schon etwas vor?«
»Ja, eigentlich schon«, antwortete Dr. Daniel ein wenig zögernd. »Ich sollte mit den Großeltern einer Patientin ein ernstes Gespräch führen.«
»Wie dringend ist das?« bohrte Dr. Sommer weiter.
»Wenn ich ehrlich bin – sehr dringend. Warum?« Dabei konnte er sich die Antwort des Freundes bereits denken.
»Ich möchte, daß du zu mir nach München kommst«, erklärte Dr. Sommer auch schon. »Verlege dieses Gespräch auf morgen und fahre im Krankenwagen mit.«
Dr. Daniel kämpfte mit sich. Er wußte genau, wie dringend er mit den Stöbers sprechen sollte, andererseits war die Aussicht auf einen Abend mit seinem besten Freund zu verlockend, als daß er leichten Herzens hätte ablehnen können.
»Schorsch, ich glaube… ich glaube, ich sollte…«
»Ich glaube, du solltest schnellstens zu mir kommen«, vollendete Dr. Sommer.
»Das wollte ich eigentlich nicht sagen«, entgegnete Dr. Daniel.
»Ich weiß. Trotzdem möchte ich, daß du im Krankenwagen bist, wenn er hier in der Klinik wieder eintrifft. Robert, ich kenne dich seit so vielen Jahren, und deshalb spüre ich sogar auf diese Entfernung und durchs Telefon, welch eine schwere Last du trägst. Du mußt dir endlich einmal alles von der Seele reden. Also, ich erwarte dich.«
Und ohne seinen Freund noch einmal zu Wort kommen zu lassen, legte Dr. Sommer einfach auf.
Dr. Daniel seufzte, dann wählte er die Nummer der Stöbers und erklärte, daß ihm etwas dazwischengekommen sei und er morgen nach der Sprechstunde kommen würde, wenn es ihnen recht wäre. Frau Stöber hatte keine Einwände, und nachdem sich Dr. Daniel ein weiteres Mal für die überraschende Verlegung des Gesprächs entschuldigt hatte, legte er auf.
Im nächsten Moment hörte er das Martinshorn des Krankenwagens und verließ das Sprechzimmer. Im selben Augenblick traten auch Susanne Hartwig und ihre Schwester aus dem Wartezimmer. Susanne war blaß vor Angst, und plötzlich fühlte Dr. Daniel heftiges Mitleid mit ihr. Mit einer sanften Geste griff er nach ihrem Arm.
»Dr. Sommer hat einen erstklassigen Chirurgen«, erklärte er. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird schon alles gutgehen.«
»Muß ein… Kaiserschnitt gemacht werden?« fragte Susanne verzagt.
Dr. Daniel nickte. »Das ist leider unumgänglich. So, Frau Hartwig, kommen Sie bitte. Der Krankenwagen wartet, und in München ist alles für Sie bereit.«
»Kommen Sie auch mit?« wollte Susanne wissen.
»Ja, ich begleite Sie.«
»Heißt das… ich soll hierbleiben?« mischte sich Marion nun ein bißchen schüchtern ein.
»Nein, natürlich nicht«, wehrte Dr. Daniel rasch ab. »Selbstverständlich können Sie Ihre Schwester begleiten.« Er schwieg kurz und bekannte dann: »Ich fahre auch noch aus einem anderen Grund mit. Dr. Sommer ist ein guter Freund von mir.«
Marion brachte ein Lächeln zustande. »Ach so, Sie benützen die Gelegenheit zu einem Besuch.«
»So ähnlich, ja.«
Inzwischen hatten sie den Krankenwagen erreicht und zwei Sanitäter halfen Susanne beim Einsteigen.
»Legen Sie sich besser hin«, riet Dr. Daniel. »Wir wollen schließlich jedes Risiko vermeiden.«
Susanne gehorchte wortlos, aber die Angst war ihr unschwer anzusehen. Und wieder einmal verfluchte sie sich, weil sie die Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrgenommen hatte. Doch es war jetzt zu spät, sich Vorwürfe zu machen. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, daß alles, gutgehen und sie ein gesundes Baby zur Welt bringen würde.
*
»Herr Dr. Kastner, bitte in den OP!« schallte die Stimme durch den Lautsprecher.
»Verdammt«, knurrte Dr. Bernd Kastner. Gerade hatte er sich auf den Heimweg machen wollen. Was war denn jetzt wieder los, daß man ihn so dringend brauchte?
Schwungvoll riß er die Tür zum Waschraum auf, durch den man den Operationssaal erreichen konnte, und wäre beinahe mit Dr. Sommer zusammengestoßen.
»Herr Kastner, da sind Sie ja«, erklärte er. »Ich dachte schon, Sie wären nicht mehr im Haus.«
»Ich war auch bereits an der Tür«, gestand der Arzt. »Worum geht’s, Herr Chefarzt?«
Dr. Sommer runzelte die Stirn. »Hat man Ihnen denn nichts gesagt?« Unwillig wandte er sich zur OP-Schwester um, die jetzt ebenfalls in den Waschraum trat. »Ich sagte doch am Telefon, daß Dr. Kastner dringend informiert werden müsse.«
Die Schwester errötete. »Ich weiß, Herr Chefarzt, aber ich konnte ihn nirgends finden.«
»Ich war noch bei einer Patientin«, kam Dr. Kastner der Schwester sofort zur Hilfe.
»Na ja, das ist jetzt eigentlich völlig unwichtig«, meinte Dr. Sommer. »Es geht um eine junge Frau, die etwa im achten Monat schwanger ist. Ihre Plazenta beginnt, sich vorzeitig zu lösen. Sie wird in…« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »in etwa einer halben Stunde hier sein.«
Dr. Kastner nickte. »Kaiserschnitt.«
»Richtig. Das gehört ja zu Ihren Spezialgebieten.« Er schwieg kurz, ehe er fortfuhr: »Dr. Weingärtner übernimmt die Erste Assistenz, und für den Notfall habe ich Dr. Groß dazugebeten.«
»Heißt das, Sie werden nicht dabeisein?« fragte Dr. Kastner.
Dr. Sommer schüttelte den Kopf. »Mein Revier ist die Mikrochirurgie, wie Sie wissen. Ich springe nur in Notfällen ein. Außerdem ist die junge Frau bei Ihnen in den besten Händen.«
Dr. Kastner errötete ein wenig bei diesem Lob. Er war sich nämlich weder seiner erstklassigen Fähigkeiten noch seines guten Aussehens bewußt. Und wenn er gewußt hätte, wie sehr die Schwestern und auch so manche Patientin ihn anhimmelten, wäre er vermutlich erst recht verlegen geworden.
In diesem Moment wurde Susanne Hartwig auch schon in den Operationssal gefahren und von der Anästhesistin in Empfang genommen. Dr. Daniel, der ebenfalls mitgenommen war, sprach kurz mit ihr und verließ den Raum dann wieder.
Die Anästhesistin übernahm die vorbereitenden Untersuchungen, die durch Susannes Nachlässigkeit, mit der sie auf die Vorsorgeuntersuchungen verzichtet hatte, versäumt worden waren. Währenddessen wusch sich Dr. Kastner sorgfältig die Hände. Die beiden Ärzte, die ihm assistieren sollten, waren schon vorher informiert worden und warteten nun bereits.
Jetzt trat Dr. Kastner herein und warf einen kurzen Blick auf die Patientin, die inzwischen schon in der Narkose lag. Das zarte Gesicht rührte etwas