Dr. Daniel seufzte. »Ich fühlte mich verraten. Und… obwohl Karina bei mir war, kam ich mir einsam vor. Ich konnte den Gedanken nicht mehr loswerden, daß ich von jedem Menschen, den ich liebte, verlassen werde.«
»Das letzte Wort war Gegenwart«, stellte Dr. Sommer fest. »Du schleppst also noch immer Verlassenheitsängste mit dir herum.«
»Nein, jetzt nicht mehr«, behauptete Dr. Daniel.
»Lüg mich nicht an, Robert. Also, komm schon, raus damit.«
»Verdammt, Schorsch, merkst du denn nicht, wie weh du mir tust, wenn du mich zwingst…«
»Doch, natürlich merke ich das«, fiel Dr. Sommer ihm ins Wort. »Aber ich habe dir vorhin schon gesagt: Da mußt du durch. Also, Robert, sprich darüber. Und wenn du weinen mußt, dann tu’s. Du bist bei deinem besten Freund, und es ist niemand hier, vor dem du dich deiner Tränen schämen müßtest.«
Allein diese Worte trieben Dr. Daniel bereits das Wasser in die Augen.
»Ich werde nicht weinen«, brachte er ein wenig mühsam hervor. »Seit Christines Tod habe ich schon viel zuviel geweint. Und als Stefan ging… und Karina…« Er brachte den Satz nicht zu Ende.
»Du nimmst den Auszug deiner Kinder zu persönlich«, meinte Dr. Sommer ernst. »Schau, Robert, dein Stefan ist vierundzwanzig, und Karina ist drei Jahre jünger, wenn ich mich recht erinnere. Die beiden sind erwachsen und wollen ihre eigenen Wege gehen. Das hast du in ihrem Alter auch getan, und wenn Christine noch am Leben wäre, dann wärst du nie auf den Gedanken gekommen, daß deine Kinder dich verlassen würden, nur weil sie sich eine eigene Wohnung gesucht haben.«
Dr. Daniel runzelte nachdenklich die Stirn. Von diesem Standpunkt hatte er die ganze Sache noch nicht betrachtet. Natürlich, alle jungen Leute wollten irgendwann ein eigenes Leben zu führen beginnen, und seine Kinder machten da keine Ausnahme. Bei ihm kam lediglich erschwerend hinzu, daß er Witwer war und sich mit seiner ganzen Liebe an Karina und Stefan gehängt hatte.
Doch da war auch noch etwas anderes – etwas, das sehr viel schwerer wog.
»Ich fühle mich für Christines Tod verantwortlich.«
Die Worte kamen wie von selbst, und fast erschrak Dr. Daniel ein wenig darüber. Bisher hatte er diesen Gedanken fest in sich verschlossen gehalten. Mit niemandem hatte er jemals darüber gesprochen.
»Wie bitte?« brachte Dr. Sommer nach Sekunden des Schweigens endlich hervor. Die Worte seines Freundes hatten ihn so geschockt, daß er eine Weile sprachlos gewesen war. Er hatte ja fast mit allem gerechnet, aber damit nicht.
»Warum, um Himmels willen, fühlst du dich für Christines Tod verantwortlich?« stieß Dr. Sommer nun entsetzt hervor. »Meine Güte, Robert, sie hatte Leukämie. Und unglücklicherweise wurde es so spät bemerkt, daß ihr niemand mehr helfen konnte.«
Dr. Daniel senkte den Kopf. »Sie starb innerhalb von vier Wochen.« Und nun mußte er doch gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. »Es war meine Schuld. Ich habe ihr von Anfang an zuviel zugemutet.«
»Robert, um Himmels willen, was redest du dir da ein?« Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Das rede ich mir nicht nur ein, Schorsch.« Er schwieg einen Moment, dann begann er leise zu erzählen: »Ich steckte mitten im Studium, als wir uns kennenlernten. Es war Liebe auf den ersten Blick, und ein Jahr später waren wir verheiratet. Damals war ich so alt wie Stefan heute, und Christine hat uns finanziell über Wasser gehalten.«
»Was ihr nicht schwerfiel«, warf Dr. Sommer dazwischen, »sie stammte immerhin aus sehr wohlhabenden Verhältnissen.«
Dr. Daniel nickte. »Aber sie stand mit allem allein da. Sie mußte praktisch von heute auf morgen eine riesige Villa in Schuß halten, und erfuhr von mir keine Unterstützung, weil ich fürs Examen büffeln mußte. Dann wurde sie schwanger, und Stefan kam zur Welt, als ich gerade Assistenzarzt bei Professor Thiersch war. Du weißt, was Thiersch mir abverlangt hat. Es war ein Wunder, daß ich bei Stefans Geburt dabeisein konnte. Drei Jahre später wurde Karina geboren, und ich war gerade dabei, meinen Facharzt zu machen. Christine war mit der Villa und der Verantwortung für zwei kleine Kinder wieder einmal allein. Dann richtete ich mir die Praxis ein, und wie selbstverständlich übernahm Christine die Pflichten als Empfangsdame. Sie arbeitete bei mir, zog zwei Kinder groß und schaffte den Haushalt scheinbar spielend, aber irgendwann machte ihr Körper diese Belastung einfach nicht mehr mit. Du kennst die Theorien über die Entstehung von Krebs genauso gut wie ich. Übermäßiger Streß ist dabei ein maßgeblicher Faktor, das wirst du doch nicht abstreiten, oder?«
»Nein, aber…«
»Es gibt kein Aber«, fiel Dr. Daniel seinem Freund ins Wort. »Ich bin zumindest mitschuldig an Christines Tod.«
Dr. Sommer schüttelte den Kopf. »Das ist doch Unsinn, Robert! Du hast sie nicht gezwungen…«
Dr. Daniel hob abwehrend die Hand. »Darauf kommt es gar nicht an, Schorsch. Natürlich habe ich sie nicht gezwungen, so viel zu arbeiten, aber ich habe sie auch nicht davon abgehalten.«
Dr. Sommer sah ein, daß er mit logischen Argumenten hier nicht weiterkam. Dr. Daniel hatte sich in dieses Schuldgefühl verrannt, und war vermutlich mit nichts vom Gegenteil zu überzeugen.
»Glaubst du an Gott?« fragte Dr. Sommer scheinbar übergangslos.
Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Wenn du mir jetzt mit Dingen wie Wiederauferstehung und ewiges Leben kommst, dann…«
»Glaubst du oder glaubst du nicht?« fiel Dr. Sommer ihm ins Wort.
»Ja und nein«, antwortete Dr. Daniel. »Ich glaube an Gott, aber ich halte nicht viel von manchen Auslegungen der Kirche.«
»Darum geht es auch gar nicht«, entgegnete Dr. Sommer. »Schau mal, Robert, ich glaube auch an Gott, und ich glaube auch noch an etwas anderes – nämlich daran, daß unser Leben vorherbestimmt ist… von Geburt bis zum Tod.«
»Du willst damit sagen, daß Christines Tod vorherbestimmt war?« Dr. Daniel winkte ab. »Vergiß es, Schorsch!«
»Nein, das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Ich will dir etwas erzählen, Robert. Vor kurzem habe ich von einem Unfall gelesen. Ein vierzigjähriger Mann stürzte aus einem Fenster im sechsten Stockwerk. Was glaubst du, was mit ihm passiert ist?«
Dr. Daniel zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich nehme an, er war sofort tot.«
Dr. Sommer schüttelte den Kopf. »Er fiel auf die herausgelassene Markise einer Pizzeria im Erdgeschoß und trug lediglich einen Beinbruch davon.«
Wieder zuckte Dr. Daniel die Schultern. »Dann hat er eben Glück gehabt.«
»Nein, Robert, so einfach darfst du es dir nicht machen. Es war Bestimmung. Der Mann sollte noch nicht sterben. Ich will dir ein weiteres Beispiel schildern. Eine fünfzigjährige Frau fiel beim Fensterputzen von einer Drei-Stufen-Leiter und hat sich das Genick gebrochen. Sie war sofort tot.«
Dr. Daniel atmete tief durch. »Du meinst… bei Christine war es ebenso?« Er schüttelte den Kopf. »Christine hatte keinen Unfall. Sie war krank.«
»Das ist richtig«, stimmte Dr. Sommer zu. »Und vielleicht wurde sie sogar durch die viele Arbeit krank, aber wenn diese Arbeit nicht gewesen wäre, dann hätte sie auf andere Weise den Tod gefunden. Leben und Tod sind Bestimmung, und niemand kann daran etwas ändern.«
Prüfend sah Dr. Daniel seinen Freund an. »Daran glaubst du wirklich?«
Offen erwiderte Dr. Sommer seinen Blick. »Ja, Robert, daran glaube ich felsenfest.«
Im selben Moment fühlte Dr. Daniel, wie sein Herz leichter wurde. Sicher, er hatte unter Christines Tod gelitten und die Sehnsucht nach ihr würde bestimmt noch nicht so schnell vergehen, aber viel schlimmer waren seine Schuldgefühle gewesen. Doch jetzt schien es ihm plötzlich, als hätte Dr. Sommer durch seine schlichten Worte diese Schuld von ihm genommen.
Dr. Sommer bemerkte die Veränderung, die innerhalb weniger Augenblicke in seinem