Inzwischen war Dr. Daniel um die Villa herumgegangen und spazierte auf schmalen Pfaden am Dorf vorbei. Hier hatte er die Ruhe, die er suchte, und erst als er die Pfarrkirche mit dem angrenzenden Friedhof unter sich erblickte, wandte er sich nach links und folgte dem leicht anschüssigen Weg.
»Herr Doktor!« wurde er in diesem Augenblick ganz unverhofft angesprochen.
Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und sah sich Susanne Hartwig gegenüber. Sie schob den Kinderwagen vor sich her und strahlte dabei wie die Sonne.
»Ich wollte schon längst zu Ihnen kommen«, erklärte sie, »aber Stefanie beansprucht mich fast rund um die Uhr.«
Dr. Daniel schmunzelte. »Jetzt schon? Wie wird das erst in ein paar Monaten sein?«
Susanne lachte. »Das frage ich mich auch. Aber sie ist ja ein solcher Goldspatz, und ich könnte mir ein Leben ohne sie schon gar nicht mehr vorstellen.« Dann wurde sie ernst. »Daß ich dieses Glück erleben darf, verdanke ich nur Ihnen, Herr Doktor.«
»Ach, so viel habe ich doch gar nicht getan«, wehrte Dr. Daniel bescheiden ab.
»Doch, Herr Doktor, Sie haben meinem Kind das Leben gerettet und…« Jetzt lächelte sie wieder. »Und durch Sie habe ich auch das große Glück gefunden.«
Erstaunt zog Dr. Daniel die Augenbrauen hoch. »Wie bitte?«
Susanne nickte. »Sie haben schon richtig gehört. Ihnen verdanke ich, daß ich bald verheiratet sein werde.«
Dr. Daniel verstand kein Wort. »Ich habe Sie doch nur in die Klinik bringen lassen.«
»Genau das ist es«, meinte Susanne. »Der Arzt, der den Kaiserschnitt machte, wird demnächst mein Ehemann.« Wieder strahlte sie. »Bernd und ich haben uns auf Anhieb ineinander verliebt, und Stefanie ist für ihn glücklicherweise kein Hindernis. In zwei Monaten werde ich heiraten.«
»Das freut mich.« Es war Dr. Daniel anzusehen, daß er diese Worte ehrlich meinte. »Werde ich Sie auch nach der Hochzeit wiedersehen?«
»Ich weiß es nicht«, meinte Susanne. »Bernd und ich werden in München wohnen, aber…« Sie lächelte. »Ich brauche ja weiterhin einen guten Gynäkologen, und da könnte es durchaus sein, daß ich den Weg nach Steinhausen finde.«
»Das wäre schön.« Auch Dr. Daniel lächelte. »Wissen Sie, ich würde das junge Familienglück gern weiterverfolgen.«
»Ich werde Sie in jedem Fall auf dem laufenden halten«, versprach Susanne, dann fiel ihr Blick auf die Rosen. »Aber ich nehme an, Sie haben eine Verabredung. Da will ich Sie wirklich nicht mehr länger aufhalten.«
Auch Dr. Daniel sah auf die Rosen in seiner Hand hinunter. »Eine Verabredung«, wiederholte er leise. »Ja, so könnte man es fast nennen.«
Dann sah er Susanne wieder an, wünschte ihr recht viel Glück und verabschiedete sich auf sehr herzliche Weise, bevor er seinen Weg fortsetzte.
Das Friedhofstor quietschte ein wenig in den Angeln, als Dr. Daniel es öffnete. Und dann stand er vor dem liebevoll gepflegten Grab.
Gott hat sie zu sich gerufen stand in unaufdringlicher Goldschrift auf dem schlichten Marmorstein. Christine Daniel.
Darunter waren Geburts- und Sterbedatum verzeichnet. Nur dreiundvierzig Jahre alt war Christine geworden. Und dabei spürte Dr. Daniel wieder den tiefen Schmerz über den herben Verlust, den er erlitten hatte. Doch jetzt war es anders als früher. Er fühlte sich nicht mehr schuldig.
Mit einer fast zärtlichen Geste legte Dr. Daniel die Rosen auf das Grab, und dabei hatte er das Gefühl, als würde ihm Christine zusehen. Unwillkürlich hob er den Blick, doch er war allein hier. Allein mit der Erinnerung an eine fröhliche, unkomplizierte und ganz bezaubernde Frau.
Ohne es vorgehabt zu haben, zog Dr. Daniel seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Foto. Strahlende himmelblaue Augen in einem zarten, von goldblonden Locken umrahmten Gesicht blickten ihn an. Als er das Bild jetzt betrachtete, hatte er zwar Mühe, die Tränen zurückzuhalten, ohne daß er das Gefühl hatte, sterben zu müssen. Und in diesem Moment spürte er, daß in seinem Innern eine Veränderung vor sich gegangen war – ausgelöst durch das lange Gespräch, das er mit Dr. Sommer geführt hatte.
»Es ist gut, wieder hier zu sein«, murmelte er plötzlich. »Und du billigst meinen Entschluß, nicht wahr, Christi?«
Er hob den Blick und richtete ihn auf einen imaginären Punkt in der Ferne. Dabei war es ihm plötzlich, als schiene die Sonne ein wenig heller als zuvor, und in diesem Moment fühlte er eine tiefe innere Zufriedenheit. Dr. Sommer hatte recht: Alles im Leben war Bestimmung – und seine Bestimmung war es, kranken Frauen zu helfen.
Dr. Daniel warf noch einen letzten Blick auf das Grab und die drei roten Rosen, die wie ein Symbol der Liebe auf der tiefschwarzen Erde lagen. Er wußte, daß er den Weg hierher noch sehr oft finden würde, doch Schuldgefühle würden nie mehr von ihm Besitz ergreifen. Ein neuer Anfang war gemacht.
»Herr Doktor, ich möchte die Wahrheit wissen.«
Dr. Gerrit Scheibler sah von dem Krankenbericht auf, in dem er gerade gelesen hatte, und direkt in das Gesicht seiner jungen Patientin hinein. Sehr blaß, was durch die dichten dunklen Locken noch verstärkt wurde, stand sie vor ihm, und in ihren großen tiefblauen Augen konnte er unschwer die Angst erkennen, die sie im Herzen trug.
»Bitte, Frau Krenn, nehmen Sie Platz.« Dr. Scheibler versuchte Zeit zu gewinnen. Die Wahrheit, hatte sie gesagt. Wie, um Himmels willen, sollte man ein achtzehnjähriges Mädchen mit einer so grausamen Wahrheit konfrontieren?
Dr. Scheibler sah in die blauen Augen, die voller Erwartung auf ihn gerichtet waren, dann stand er abrupt auf und trat mit mechanischen, fast ein wenig eckigen Bewegungen ans Fenster. Auf drei Spuren krochen Autoschlangen am Krankenhaus vorbei. Stoßzeit. Es war jeden Tag dasselbe.
Dr. Scheibler seufzte, dann drehte er sich mit einem Ruck um und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.
»Sie wollen also die Wahrheit wissen«, wiederholte er Leandra Krenns Worte. »Nun, die Wahrheit ist, daß Sie leider sehr krank sind.«
Doch damit ließ sich Leandra nicht abspeisen. »Wie krank, Herr Doktor?«
Der junge Stationsarzt wand sich. Noch niemals hatte er eine solche Situation durchstehen müssen, und für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, Leandra Krenn zum Chefarzt zu schicken. Doch Professor Thiersch hätte es sicher abgelehnt, mit der Patientin zu sprechen. Er verfügte nun mal nicht über den nötigen einfühlsamen Ton, und das wußte er auch.
Dr. Scheibler atmete tief durch. »Frau Krenn, Sie leiden an Leukämie.«
Einen Moment lang herrschte in Leandras Gehirn eine völlige Leere – ein großer, leerer Raum, der keinen Gedanken fassen konnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Arzt an, dann wanderte ihr Blick unkontrolliert weiter und blieb an der großen Wanduhr hängen. Dieses riesige, runde Ding tickte unaufhörlich weiter. Warum blieb die Zeit nicht stehen?«
Von der Straße drangen Motorenlärm und Hupen herauf. Warum ging die Welt nicht einfach unter? Wie konnte das Leben weitergehen, wenn ihr gerade das Todesurteil präsentiert worden war?
Die Geräusche um sie herum verwandelten sich in ihrem Kopf zu einem unerträglichen Getöse, und dazwischen hörte sie immer wieder Dr. Scheiblers Stimme: »Sie leiden an Leukämie… Leukämie… Leukämie…«
In diesem Moment schien in ihrem Kopf etwas zu explodieren, und diese