Mit einer schlangengewandten Biegung ihres schlanken Leibes entschlüpfte sie ihm wieder, dessen starke, blonde Brauen sich plötzlich finster zusammengezogen. Sie lachte und strich mit der Hand glättend darüber hin. »Großmama schimpfte und schalt wohl über das Telegramm,« fuhr sie rasch, den fatalen Eindruck verwischend, fort, »aber sie befahl doch sofort, daß im Eßsalon vor ihren Augen gepackt werde – o du Gerechter – war das eine Wirtschaft! Minna und Großmamas alte, sauertöpfische Kammerjungfer schleppten die halbe Garderobekammer herbei, und es dauerte nicht lange, da verschwand die Großmama samt ihrem Lehnstuhl hinter einem ganzen Berg von Gazeröcken, und ich sah nur noch manchmal die zitronengelbe Schleife auf ihrer Haube wackeln, wenn sie schalt und kommandierte ... Ach, Felix, es prickelte mir unsäglich verführerisch in den Fußspitzen, bei all den flimmernden Theaterherrlichkeiten, die Mama allmählich für mich angeschafft hat; und als das Kostüm der Gisela gebracht wurde – ein hinreißendes Kostüm, sage ich dir – da – da traten mir die Tränen in die Augen ... Na, sei nur ruhig, – was will ich denn machen? Ich stecke ja bis über beide Ohren in der fabelhaft dummen Liebe zu dir, und da verschluckte ich denn auch tapfer meine Tränen und lachte heimlich über »Madame Lazare née de Rougerole«, die gerade in dem Augenblick zu meiner Jungfer sagte: »Minna, daß Sie sich nicht etwa unterstehen, auf den Bahnhöfen familiär neben Fräulein Fournier herzugehen! Sie haben sich hinter ihr zu halten, und in Wien wird nicht ausgeplaudert, daß Sie die einzige Reisebegleitung gewesen sind – das bitte ich mir aus!« ... Ha, ha, ha – in Wien! Bei mir stand es bereits bombenfest, daß ich – zu meinem Schatz gehen würde ... Und da hast du mich nun, Felix! – Minna sitzt mit Koffern und Schachteln im Hotel, zwischen Weinen und Lachen, und hat schreckliche Angst vor Mama und Großmama – willst du sie nicht holen lassen?«
Er schrak in sich hinein, als bräche die Zimmerdecke über ihm zusammen – da war die schreckensvolle Wirklichkeit wieder! »Nein, hierher darf sie nicht kommen,« versetzte er gepreßt, »und auch du kannst nicht dableiben, Lucile.«
Jetzt erst sah sie sich um und schlug kichernd die Hände zusammen. »Ach, das ist kostbar – du bist wohl in die Leinenkammer deiner Mutter geraten?« rief sie und zeigte nach dem offenen Wäscheschrank. »Aufrichtig gestanden, für immer möchte ich auch um keinen Preis hierbleiben,« setzte sie nach einer weiteren Musterung hinzu; sie schüttelte sich, während ihr scheuer Blick an dem tiefen Türbogen hinglitt, in dem bereits dichte Finsternis lagerte. »Ich fürchtete mich zu Tode, sage ich dir! ... Wenn du mir vom Klostergute gesprochen hast, dann mußte ich immer an Marmorsäulen, mächtige Bogengänge und Springbrunnen im Klosterhofe denken. Und nun führt mich der Lohndiener vor dieses scheußliche Nest und besteht darauf, daß es das Klostergut sei – ich habe mich beinahe mit ihm gezankt ... Ach Gott, und der Eingang! ... Ich fiel um ein Haar über ein paar Eimer, die im Wege standen, ein kleines Kind schrie und krähte wie ein Hähnchen – wohl das hoffnungsvolle, kleine Wolfrämchen? – der ganze Hausflur roch nach gebratenem Speck – puh, Speck! ... Und nun gar das Prachtstück, das mich herausgeführt hat und, wie mir scheint, Portier, Lakai und Hausjungfer in einer Person ist! Sie grinste mich verständnisinnig an und patschte mir gönnerhaft den Rücken – oh!«
In ihre glänzend weihe Stirne gruben sich ein paar leichte Falten der Besorgnis, während sie halb ängstlich, halb drollig hinzufügte: »So viel weiß ich nun, Felix – Mama und Großmama dürfen nie hierher kommen! Das gab' einen gräßlichen Skandal, und die unglücklichen Rougeroles müßten sich en tour in ihren Särgen umdrehen.«
»Beruhige dich, Lucile, Mama und Großmama werden nie in diese Verlegenheit kommen,« entgegnete der junge Mann schweratmend. »Komm jetzt – auch wir wollen gehn –«
»Wie, noch diesen Abend?« unterbrach sie ihn mit großen Augen. »Ohne deiner Mama –«
»Meine Mutter ist nicht darauf eingerichtet, einen Gast wie dich zu empfangen.«
»Aber, mein Gott – ich bin ja doch nicht so anspruchsvoll! Du sagst selbst immer, ich ätze und nippe wie ein Vögelchen – freilich, für Speckeier danke ich! Wer Frau Wagner, unsere alte Köchin, behauptet stets, ein wenig Mayonnaise oder Aspik oder dergleichen, was ich so sehr gern nasche, müsse immer in einem anständigen Speiseschrank zu finden sein.«
Er preßte die Lippen fest aufeinander, und ohne ein Wort zu erwidern, nahm er das Strohhütchen vom Tische und drückte es sanft und vorsichtig auf das braune Gelock des jungen Mädchens.
»Nun, wie du willst,« sagte sie achselzuckend und steckte den Hut mit einer goldenen Nadel fest. »Gehen wir in das Hotel?«
»Nein. Ich bringe dich in den Schillingshof zu unserem Freund, dem Baron Arnold.«
»Oh, das ist mir sehr lieb, das freut mich, Felix! – Der nette Baron Schilling! Ich bin ihm gut! ... Werde ich euch seine junge Frau sehen? – Ich sterbe vor Neugier, ob sie schön ist – das ist mir nämlich stets die Hauptsache, mußt du wissen.« – Bei den letzten Worten hob sie ihre Gestalt, so hoch sie konnte, auf den Zehen, um in dem zwischen den Fenstern hängenden, winzig kleinen Spiegel zu prüfen, ob der Hut »anständig« sitze; aber lachend, mit einer schüttelnden Handbewegung, gab sie den Versuch auf. »Großmama hat den Papa der jungen Baronin, den alten Herrn von Steinbrück in Koblenz, gut gekannt,« plauderte sie weiter. »Sie behauptet, er habe seine einzige Tochter im Kloster erziehen lassen.«
»Die Großmama hat recht,« sagte er und zog ihr den Schleier über das Gesicht. Die Arabesken und Ranken der schwarzen Spitze ließen kaum an einigen klaren Stellen die weiße Samthaut durchscheinen – nur die Augen, diese groß aufgeschlagenen, schillernden Sterne, blitzten wie Steingefunkel durch einen schmalen Streifen dünnen Spitzengrundes.
»So, nun wären wir fertig,« sagte sie und griff nach ihrem Taschentuch.
Felix reichte ihr den Arm. »Liebes Herz,« bat er, unter der Türwölbung den Schritt anhaltend, mit gedämpfter Stimme; »sprich nicht, solange wir im Hause sind, und gehe möglichst geräuschlos die Treppe hinab.«
»Aber, mein Gott, weshalb denn? Wir sind doch keine Spitzbuben?« fragte sie verwundert. »Ach, das kleine Kind ist wohl krank?«
»Nicht krank – aber sehr schwachnervig.«
»Ah – ich verstehe!«
Sie traten hinaus auf den Vorsaal. In dem jungen Manne wogte ein nicht zu beschreibender Aufruhr. Seine Hände ballten sich wie im Krampfe, und der fieberhaft angstvolle Wunsch: »Nur keine Begegnung zwischen ihr und meiner Mutter!« wurde mit jedem Schritt weiter in die dräuende Tiefe hinab zur inbrünstigen, gen Himmel gerichteten Bitte.
6.
Ein tiefes Dämmern war hereingebrochen. Drunten in dem Hausflur mußte schon die Wandlampe brennen – ein blasser Schein lief die Treppenwand herauf; er genügte gerade, um die Holzfiguren des Geländers ins Grauenhafte zu verzerren, den weiten, schwarzen Schlund eines ausgedienten Kamins und die Wölbung einer offenen Tür zu zeigen, die in den unergründlich dunklen Bodenraum eines Hintergebäudes führte und an welcher die Hinabsteigenden vorüber mußten.
»Um Gottes willen, Felix, wie hältst du es hier in dieser Hexenküche auch nur für eine Stunde aus?« flüsterte Lucile, die Augen furchtsam schließend, dicht an seinem Ohr.
Er drückte beschwichtigend ihren Arm fest an sich. Sein elastischer Tritt war fast ebenso leicht, wie die huschenden Füßchen seiner Begleiterin, und doch seufzten die Stufenbretter in schreckhafter Weise und gerieten in schütternde Bewegung. Zu seiner großen Beruhigung aber sah der junge Mann sehr bald durch das Geländer, daß der erleuchtete Hausflur vollkommen leer war, und keine der Türen offen stand – nur noch wenige Augenblicke, und er war aus der herzbeklemmenden, angstvollen Situation erlöst.
In diesem Moment des heimlichen Aufatmens sprang plötzlich ein dunkler Körper tigerartig aus der unbeleuchteten Ecke der unteren Treppenwendung und schoß mit einem riesigen Satze dicht neben Lucile hin, um lautlos im oberen Stockwerk zu verschwinden