»Geh weg, geh weg!« rief die Baronin nervös und weinerlich abwehrend wie ein geängstigtes Kind und zog die Schleppe an sich, damit das Barfüßchen sie nicht streife.
Die Kleine beschrieb einen weiten Bogen um die »gnädige Frau« und blieb in der Nähe des Freiherrn stehen. Das vom Weinen dick verschwollene Gesichtchen auf die Brust gesenkt, pflückte sie an den eigenen, bebenden Fingern, als zerzupfe sie im krampfhaften Eifer eine Blume.
»Du willst nicht zu deiner Großmutter zurück, Hannchen?« fragte der alte Herr, seine Stimme mühsam zur Festigkeit zwingend – man sah, der Anblick des verwaisten Kindes spielte ihm furchtbar mit.
Die Kleine sprach nicht – sie hob nur die schweren Lider, um sie mit einem finsteren Blick wieder zu senken.
»Nein, sie will durchaus nicht, gnädiger Herr,« antwortete Mamsell Birkner für sie. »Die alte Frau ist mitgegangen bis an den Schillingshof und hat sie mit Gewalt fortbringen wollen; aber das hat drüben auf der Straße einen wahren Aufruhr gegeben – Fritz hat das arme Ding um keinen Preis fortschleppen lassen ... Nun ist er freilich in Angst, was die Herrschaft dazu sagen wird, daß er die Kleine ins Haus gebracht hat –«
»Es ist gut so – er kann ruhig sein,« sagte Baron Schilling. Er bog sich zu dem kleinen Mädchen nieder. »Ist die Großmutter so böse?« fragte er und hob ihr das Köpfchen sanft empor. Diese weichen, guten Laute der schönen Männerstimme lösten den starren Schmerz des Kinderherzens. »Sie ist schuld!« stieß sie hervor. »Sie hat mit dem Vater gezankt, weil ihn der gnädige Herr fortgeschickt hat, und – wie sie ihn gebracht haben, da hat sie geschimpft und die Türe vor ihm zugeschlagen – oh!« »Bleibe du bei uns,« unterbrach Baron Schilling das furchtbare Aufweinen, in das die Kleine bei den letzten Worten verfiel.
»Arnold, was willst du tun?« fuhr die Baronin empor.
»Was ich auch tue, Frau Schwiegertochter,« fiel der Freiherr mit seiner alten Kraft in Stimme und Haltung ein. »Das Kind bleibt bei uns – es wird im Schillingshof erzogen, und damit Punktum! ... Birkner, wollen Sie sich der Kleinen annehmen?«
»Ach, und wie gerne! Mit tausend Freuden, gnädiger Herr!«
»Nun, dann ziehen Sie ihr die nassen Kleider herunter und bringen Sie das arme Ding ins warme Bett!«
Die Wirtschafterin führte das Kind hinaus, und die Baronin erhob sich schweigend. Die lange, graue Gestalt durchschritt langsam schleppenden Ganges das Zimmer und zog sich mit leichtem Kopfneigen und einem schwach geflüsterten »Gutenacht« in ihre Gemächer zurück ... In der dritten Nachmittagsstunde des anderen Tages verließ der geschlossene Wagen des alten Freiherrn den Schillingshof. Das große Tor des Klostergutes stand weit offen; die Stallmagd hantierte da mit dem Besen, und das Hausmädchen wollte eben, den Marktkorb am Arm, heraus auf die Straße treten, als der Wagen vorüberfuhr ... Felix bog den Kopf weit vor, und sein schmerzvoller Blick überflog suchend den Klosterhof.
Die Mägde stießen sich kichernd an. »Da fahren sie hin!« sagte die Hausmagd – sie hielt den Kopf steif und blinzelte mit den Augen nach rückwärts. »Die Frau steht hinter uns, drüben am Fenster – sie muß den jungen Herrn gesehen haben. Das wird sie freilich wurmen – so schlecht ist sie doch noch nicht angekommen mit ihrem Starrkopf, die stolze Frau Majorin; sie denkt immer, es könnte ihr gar nicht fehlen ... Es geht ihr aber schrecklich nahe, Christel, wenn sie auch keine Miene verzieht. Sie ist gestern abend, bis in die späte Nacht 'nein, von einem Fenster zum anderen gelaufen, weil sie immer noch gedacht hat, der junge Herr müßte wiederkommen ohne seinen Schatz – ins Bett ist sie auch nicht gegangen, es stand heute früh noch so, wie ich's gestern zurecht gemacht hatte ...«
Drin am Bogenfenster der Amtsstube stand währenddessen die Majorin. Sie hielt den Fenstergriff umklammert und starrte hinaus durch den Torbogen, wo eben noch einmal das tieferblaßte Gesicht des scheidenden Sohnes aufgetaucht war. Kein Seufzer hob ihre Brust – sie verharrte auf dem Platze wie eine Bildsäule ... Da trat der Rat hinter sie. »Er ist dir für immer verloren, Therese – der elende Bursche geht zu seinem leichtsinnigen Vater,« sagte er kalt.
Sie fuhr herum, als habe er ihr einen Dolch in das Fleisch gestoßen, aber sie fragte nicht: »Woher weißt du das?« – Sie warf ihm nur einen wilden Blick zu, biß die Zähne wie im Krampfe zusammen und ging hinaus. – –
10.
Man schrieb das Jahr 1868. In dem Zeitraum von acht Jahren hatten sich gewaltige Ereignisse in zwei Weltteilen abgespielt; es war viel Blut geflossen in Schleswig-Holstein und Böhmen, und auf dem Boden der Vereinigten Staaten hatte der große Sezessionskrieg, in dem der Rassenhaß und der langjährige Widerstreit zwischen Ackerbau- und Pflanzerstaaten endlich zum Austrag kamen, in vier Jahre langer Wut und Erbitterung getobt.
Diese acht Jahre waren verhängnisvoll gewesen für Millionen von Menschenleben, auch für das Geschick des Verstoßenen, der an einem schönen Junitage das deutsche Vaterland verlassen, um mit seinem Mädchen über das Meer, zu dem wiedergefundenen Vater zu flüchten – verhängnisvoll auch für den Schillingshof, in dem der Senior des Hauses, der alte Freiherr Krafft, nach einem abermaligen Schlaganfall die lustigen, feurigblickenden Augen für immer geschlossen hatte und infolgedessen das herrliche alte Säulenhaus oft verwaist und verlassen stand – scheinbar unberührt aber war das Klostergut geblieben; der Wechsel war vorbeigeschritten, als läge es ihm, in weltweiter Verschollenheit, zu abseits vom Wege.
Nach wie vor, pünktlich um dieselbe Abendstunde, rasselte das Seitenpförtchen in der Straßenmauer, und die Leute kamen, um die gute, unverfälschte »Klostermilch« zu holen. Im Hofe hantierten dieselben Knechte und Tagelöhner und fuhren mit Egge, Pflug und Äxten hinaus in das weite Wolframsche Acker- und Waldgebiet, und durch das große Tor schwankten die Erntewagen, die Holzfuhren zurück – alles nach jahrhundertaltem Brauch und abhold jeder Veränderung. Und in das Hühnervolk, in die Taubenschwärme durften sich keine fremden Arten mischen – es waren immer dieselben Formen und Farben im Hofe und auf den Dächern des Klostergutes – unveränderlich, meinten die umwohnenden Leute, wie die alte, mißfarbene Joppe des Herrn Rates, wie die stolze Haltung und das verschlossene, kalte Gesicht der Frau Majorin. Aber sie mußten doch zugeben, daß die Gestalt mit dem steifgetragenen Haupt an den Schultern spitz geworden war, daß die braune Flechte auf dem Scheitel ein starker Silberschein überspielte und die ganze Frauenerscheinung an Energie und Raschheit der Bewegungen bedeutend verloren hatte.
Wenn etwas an dem altüberlieferten Aussehen des Klostergutes störend befremdete, so war es der wilde Junge, der oft plötzlich die rasselnde, kleine Pforte aufriß und herausspringend die Spaziergänger erschrecke. Er stand auch wohl im offenen Hoftor, schlug mit der Peitsche nach den vorübergehenden Kindern, zupfte die spazierengehenden Damen an den Kleidern, trat auf ihre Schleppen und machte ihnen lange Nasen nach. Und wenn er in den Hof zurücklief, da rannte ganz gewiß das geängstigte Federvieh schreiend in alle Ecken, der grimme Kettenhund schlich mit eingeklemmtem Schwanze nach seiner Hütte, und selbst die grobe Stallmagd wich scheu zur Seite, denn vor der stets herumfahrenden Peitschenschmitze oder dem Knüppel in der Hand des Mosje Veit war nichts sicher.
Für den Spätling des Wolframschen Geschlechtes war von dem gesunden Mark, der robusten Körperkraft der Ackerbau treibenden Vorfahren nicht viel verblieben – er hatte ein reizbares Nervensystem und neigte zu Krämpfen. Bis zum elften Monat war er im Wickelkissen getragen worden, und dann hatte es der kostspieligsten Stärkungsmittel bedurft, um ihn auf die dürren Spinnenbeinchen zu bringen. Unglaublich dünn und mager war dies Gestell auch heute noch; das braune, kleine Gesicht zwischen den abstehenden Ohren hatte sich nicht gerundet, und der unheimliche Haarbusch, der, wie bei dem Rat, als Schneppe hartlinig und tief in die Stirne hineinschnitt, umstarrte noch ebenso borstig den schmalen Kopf. Aber Veit war ein hoch aufgeschossener