„Meinst du, das gefällt deiner Freundin?“
Er stutzt. „Welcher Freundin?“
„Äh … die gerade in Hollywood ist?“
Er lacht und winkt ab. „Kira und ich bildeten eine vergnügliche Zweckgemeinschaft. Wir stehen beide nicht auf komplizierte Beziehungen und waren uns einig, dass wir eine Fernbeziehung gar nicht erst probieren müssen. Wir haben uns in aller Freundschaft getrennt.“
Sina schüttelt den Kopf und stößt ein schnippisches Schnauben aus, was ihn jedoch nicht beeindruckt. Er mustert sie ungeniert, mit einem amüsierten Grinsen im kantigen Gesicht. Sie nippt an ihrem Glas, weil sie unbedingt etwas tun muss, und sucht in ihrem leer gefegten Hirn verzweifelt nach einem Gesprächsthema. Immer noch dieser neugierig musternde Blick. Oh Mann! Das ist Folter! Dabei kann man ja nicht denken. Schnell nimmt sie einen weiteren großen Schluck.
Er nickt zufrieden. „Siehst du, der Sam Spezial schmeckt dir.“
Er legt seine Hand auf die niedrige Lehne ihres Barhockers. Sie spürt seine Finger ganz leicht an ihrem unteren Rücken und sein Duft … verflixte Gefühlsduselei, dieser Duft … und diese Augen … hat ihm denn nie jemand gesagt, dass es unhöflich ist, Leute anzustarren?
Ihre Haut kribbelt. Was macht er nur mit ihr? Sie nickt und schluckt. Sie sollte dringend ihre Stimme wiederfinden, wenn er sie nicht für völlig bescheuert halten soll.
„Warum bist du so panisch weggelaufen?“ Seine Tonlage ist plötzlich anders. Leise. Ernster.
Sie zuckt zusammen. „Ich … ähm … ich bin nur zur Toilette …“
Er senkt leicht den Kopf und wirft ihr einen tiefen, bedeutungsschweren Blick zu. Ihr Gesicht wird heiß. Brennend heiß. Die Ohren auch. Verdammt noch mal, sie kann sich von ihm doch nicht so beeinflussen lassen. Genervt verdreht sie die Augen. „Ich hatte es nur eilig. Lass uns wieder zu den anderen gehen.“
„Ich möchte mich lieber mit dir allein unterhalten.“
„Ich stehe nicht auf One-Night-Stands.“
Er grinst. „Denkst du, ich will dich verführen?“
Sie schiebt entschlossen die Schultern zurück. „Ich weiß nicht, was du willst, ich weiß aber sehr genau, was ich nicht will“, entgegnet sie so arrogant, wie sie nur irgendwie kann, nimmt ihr Glas, rutscht vom Barhocker und schlendert lässig zum Tisch. Ha! Geht doch.
Er folgt ihr, setzt sich wieder gegenüber und zuckt amüsiert mit den Schultern. „Ich wusste, dass es interessant wird, dich kennenzulernen.“
Unwillig schüttelt sie den Kopf. „Als Fotograf triffst du jeden Tag die interessantesten Menschen, viel interessantere als mich.“ Sie hebt das Glas an und fischt mit dem langen Dessertlöffel nach Kirschen, um ihn nicht ansehen zu müssen.
„Models und Promis sind nicht interessant, sondern oberflächlich schön, weil das ihr Job ist. Als Fotograf interessieren mich Gesichter, die eine Geschichte erzählen, die eine individuelle Ausstrahlung haben, in der sich ihre Lebenserfahrungen spiegeln.“
Heiße Schauer jagen durch ihren Körper, während sich in ihrem Magen gleichzeitig ein fieser Knoten bildet. Die widersprüchlichen Empfindungen sind kaum auszuhalten.
„Zu mir gibt es keine Geschichte.“
„Oh doch, die gibt es, und ich wette, du wirst sie mir erzählen.“
Sina setzt hart ihr Glas auf. „An Komplexen leidest du jedenfalls nicht.“ Sie will aufspringen, doch seine Hand legt sich warm auf ihre. Ihr Körper wird zu einem Stein. Sie hält die Luft an, starrt auf seine langen Finger und ihr Herzschlag poltert wie ein Presslufthammer in ihrem Brustkorb.
„Verstanden und akzeptiert. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht in die Enge treiben.“ Er drückt kurz ihre Hand, lässt sie sofort wieder los und schiebt lässig die Ärmel seines Pullovers zurück, sodass ihr Blick zwangsläufig von seinen kräftigen Unterarmen angezogen wird.
„Was für Bilder brauchst du?“
„Was?“ Ihr Gesicht zuckt hoch.
„Hula meinte, du wolltest mich wegen Fotos ansprechen.“
Sie schüttelt entschlossen den Kopf. „Das war ein Missverständnis.“
„Okay, falls du es dir anders überlegst, komm einfach in meinem Studio vorbei“, sagt er leichthin und wendet sich Hanna und Helen zu. „Wir haben uns lange nicht gesehen, was gibt’s Neues bei euch?“
Misstrauisch forscht Sina in seinem Gesicht, aber seine Aufmerksamkeit gilt jetzt offen, nett und entspannt allen am Tisch.
Eine Stunde später verlassen Hanna, Samuel und sie gemeinsam Pimrots Höhle und schlendern die Straße entlang bis zu seinem Atelier. Es war ein netter Restabend. Sina konnte sich tatsächlich entspannen und sogar mit den anderen lachen. Gut gelaunt bleibt sie mit Hanna stehen, um sich von Samuel zu verabschieden, als er seine Tür aufschließt.
Er dreht sich um und wuschelt Hanna durch die Haare. „Gute Nacht, Hula. War schön, dich mal wieder zu sehen.“
Hanna gibt ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Hintern. „Dir auch eine gute Nacht, Sammyboy.“
Er wendet sich Sina zu und umfasst weich ihre Oberarme. Sein Gesicht nähert sich, er lächelt. Sein Duft lullt sie ein und dann drückt er ihr einen hauchzarten Kuss auf die Wange. Ihr Herzschlag macht einen Salto und gleichzeitig will sie einem Impuls folgen und sich an seine Brust schmiegen. Bevor sie in eine totale Schockstarre fällt, hat er sich schon wiederaufgerichtet. Er streicht ihre Arme hinunter und nickt kaum merklich, als wüsste er, was in ihr vorgeht. „Gute Nacht, Sina, ich freue mich sehr, dass wir uns wiedergetroffen haben.“
„Ja“, kann sie nur heiser stammeln, dann ist er in seinem Haus verschwunden und Hanna boxt kichernd ihren Arm. „Ich sagte doch, er steht auf dich.“
Als Sina eine Stunde später im Bett liegt, ist an Schlaf nicht zu denken. Ihre Gefühle fahren Achterbahn. Sie hat Samuel wiedergesehen. Er war nett. Etwas in ihr will ihn unbedingt näher kennenlernen. Er hat diese Empfindungen in ihr geweckt, die sie faszinieren und ihr gleichzeitig horrende Angst machen. Er zieht sie an und sie hat Schiss vor ihm, beides weil er ein Mann ist. Was für ein Durcheinander in ihrem Kopf. Es ist, als hätte er eine Tür in irgendeiner verwinkelten Gasse ihres Gehirns geöffnet, und nun sind da Begehren, verzehrender Hunger nach Lust und Liebe, tiefe, quälende Sehnsucht. Gleichzeitig tobt die Panik in ihr. Vielleicht täuscht er alle und ist auch so ein Schwein. Unwillig schüttelt sie den Kopf. Nein, das ist er natürlich nicht. Es ist nur ihre Paranoia, die ihr das einreden will. Trotzdem darf sie nicht von ihm träumen, denn er würde sie völlig überfordern. Er kennt sich mit Frauen aus. Er ist lässig. Und sie? Sie kennt sich nicht aus, schon gar nicht mit Männern seines Schlags. Gegen alle Vernunft ist da das fast schmerzhafte Sehnen. Sie möchte Zeit mit ihm verbringen, doch schafft sie das, ohne bei der ersten kritischen Situation in Panik zu geraten? Kann sie überhaupt diesen Job machen oder wird sie sich furchtbar blamieren?
In der Nacht quälen sie noch häufiger als sonst die Albträume und am Morgen fühlt sie sich wie gerädert. Sie ist erschöpft und schrecklich mutlos. Sie sollte den Job und die Ausbildung vergessen, jeden Gedanken an diesen Mann aus ihrem dummen Hirn verbannen und zurück in ihr Elternhaus gehen. Noch ist es nicht verkauft.
Und dann? Ja, und was dann? Hat sie überhaupt Alternativen? Tränen sammeln sich in ihren Augen. Es wird nicht klappen, nichts wird klappen. Sie kann sich auch genauso gut gleich von einem Hochhaus stürzen. Es war eine dämliche Idee, nach Hamburg zu kommen.
Nachdem sie geduscht und die Gespenster der Nacht mit starkem Kaffee vertrieben hat, denkt sie wieder klarer.
Will sie weiter frustriert