Das purpurne Hemdchen. Sara-Maria Lukas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sara-Maria Lukas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783864953118
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Lachen der Männer und die fiesen, gehässigen Koseworte. Sie will die Augen aufreißen, aber die Dunkelheit bleibt. Sie liegt flach auf dem Rücken. Die Stimmen sind links und rechts, über ihr und hinter ihr. Mal drohend, mal heiser, mal flüsternd an ihrem Ohr. Sie will schreien, sich wehren, aufspringen, doch nichts davon ist möglich. Da ist nur Kälte, als ob ihre Haut gefroren und gefühllos wäre. Kein Laut dringt aus ihrer Kehle. Ihre Knie werden auseinandergedrückt. Sie will strampeln, aber ihre Gliedmaßen gehorchen immer noch nicht, liegen da wie abgestorbene Äste eines Baumes, und es ist so dunkel wie in einem Grab.

      „Nein!“, schreit sie mit aller Kraft und schreckt hoch. Die Augen weit aufgerissen, nimmt sie erleichtert ihre Umgebung wahr. Sie ist im Hotel und das Zimmer ist hell erleuchtet. Das Licht brennt. Niemand hat es ausgeschaltet, es ist an und sie ist allein. Natürlich ist sie allein.

      „Ihr verdammten, verfluchten Schweine, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?“, stöhnt sie und rappelt sich schwankend auf. Sie muss sich den Schweiß abwaschen und ein frisches T-Shirt anziehen, wie jede Nacht, wenn sie im Schlaf von der Erinnerung heimgesucht wird. Sie setzt sich auf den Rand des Bettes und konzentriert sich auf ihre Atmung. Es ist doch längst Routine. Sachte einatmen, tief ausatmen und den Brustkorb dabei gleichmäßig massieren, bis der Druck nachlässt. Bloß nicht an die Stimmen denken. Sie beschwört das Bild von Sonnenschein, einer grünen Wiese und blühenden Blumen vor ihrem inneren Auge herauf. Das hilft, die Gespenster zu vertreiben.

      Als ihr Herz wieder normal schlägt und sich der Schmerz im Brustkorb aufgelöst hat, lässt sie den Oberkörper zurückfallen und starrt an die Zimmerdecke. Verlieben? Sie? Was für ein Hohn. Sie kann ja nicht mal ohne Licht schlafen! Wie soll sie jemals mit einem Mann im Bett Sex genießen können? Der Gedanke ist geradezu lächerlich. Nein, sie wird sich auf ihre Lebensplanung konzentrieren, genauso, wie sie es sich vorgenommen hat. Sie muss sich auf ihre Ziele fokussieren, dann ist es zu schaffen. Ganz bestimmt. Sie findet ihr Glück. Liebe ist nicht alles. Bittere Tränen steigen ihr in die Augen, lassen sich nicht aufhalten. Schluchzend krabbelt sie unter die Decke und rollt sich zusammen wie ein Baby. „Ich hasse dich, Kuh.“

      Kapitel 3

      Sina sitzt auf einem der Barhocker an ihrem Küchentresen und dreht den Kaffeebecher zwischen den Fingern. Es ist erst früher Nachmittag, aber sie hat trotzdem Licht angemacht. Grauer Himmel und Dauerregen sorgen für trübe Dämmerung, passend zu ihrer Stimmung.

      Nun ist sie schon seit drei Wochen in Hamburg und hat noch keinen Job. Allmählich breitet sich ein immer schwerer werdender Kloß in ihrem Brustkorb aus. Was, wenn sie es doch nicht schafft? Außer Hanna, die wirklich sehr nett ist, hat sie bisher keine anderen Menschen kennengelernt und ist einsam. Hanna arbeitet jeden Tag bis spätabends. Sie sind noch nicht dazu gekommen, etwas zusammen zu unternehmen, obwohl sie es sich immer wieder vornehmen, wenn sie sich zufällig im Treppenhaus begegnen. So verbringt Sina ihre Zeit allein, und langsam fällt ihr die Decke auf den Kopf, wie man so schön sagt.

      Jeden Morgen sucht sie im Internet und in der Tageszeitung nach Arbeit. Sie bewirbt sich und stellt sich vor, aber sie bekommt nur Absagen. Es ist zum Verrücktwerden. Hätte sie doch wenigstens einen richtigen Beruf. Immer wenn sie sagen muss, dass sie noch keine Ausbildung, ja, nicht mal das letzte Schuljahr abgeschlossen hat, gucken potenzielle Arbeitgeber schon sehr misstrauisch. Sie sieht es in den Gesichtern und wird jedes Mal erst recht nervös. Wahrscheinlich merkt man ihr spätestens dann an, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Da helfen keine peppigen Klamotten und da hilft auch keine neue Frisur. So schwer hat sie sich den Neuanfang in Hamburg nicht vorgestellt.

      Zu allem Überfluss scheint es komplizierter zu sein als erwartet, ihr Elternhaus zu verkaufen. Die behindertengerechte Einrichtung ist veraltet. Der zukünftige Besitzer wird viel Geld für die Modernisierung reinstecken müssen, das schreckt die Interessenten ab.

      Vor lauter Angst, die Raten dafür nicht zahlen zu können, hat sie sich noch nicht mal zu dieser Autoren-Ausbildung in der Fernschule angemeldet. Den schönen neuen Laptop nutzt sie nur, um auf ihre Facebook-Seite zu gucken, auf der nach wie vor nichts los ist.

      Stopp! Schluss mit dem Selbstmitleid. Natürlich braucht sie den Laptop, vor allem, um Arbeit zu suchen und sich zu bewerben und … sie seufzt, natürlich genauso intensiv, um die Absage-E-Mails zu lesen. Selbstironie ist eine Kunst. Wenigstens die beherrscht sie.

      Nein, von der Euphorie des ersten Wochenendes in der großen Stadt ist wirklich nichts mehr übrig.

      Sie steht auf, stellt sich ans Fenster und beobachtet, wie die Regentropfen an der Scheibe hinablaufen. Winter in Hamburg bedeutet anscheinend nur Sauwetter. Zuhause liegt im Februar Schnee, hier wechseln sich Regen, Hagel und Sturm ab.

      Fast jeden Tag denkt Sina wehmütig an diesen einen abendlichen Spaziergang auf der Reeperbahn. Ob sie jetzt glücklicher wäre, wenn sie mit ihm, Samuel, etwas getrunken hätte? Oft taucht vor ihren inneren Augen sein Gesicht auf. Sie betrachtet sein Lächeln, die schönen Lippen, und seine Blicke ziehen sie in eine wunderbare Traumwelt. Dann kribbelt ihre Haut am Kinn, da, wo er sie angefasst hat, und ein sehnsüchtiges Pochen meldet sich in ihrem Unterleib.

      Sie ist in den vergangenen Wochen mehrmals den gleichen Weg gegangen, aber er war nie da. Natürlich war er nie da. Warum sollte er zweimal auf der Reeperbahn fotografieren? Vielleicht wohnt er gar nicht in Hamburg, ja, wahrscheinlich war er nur zu Besuch.

      Sie möchte so gerne noch mal seine Stimme hören und in seinen verführerischen Duft eintauchen. Manchmal stellt sie sich vor, dass sie sich zufällig auf der Straße wiedertreffen und sie souveräner ist. In ihrer Fantasie flirtet sie mit ihm, lässt sich von ihm einladen und sie verbringen einen schönen Abend zusammen. Sie könnte ihm von ihren Berufsplänen erzählen und er würde sie respektvoll ansehen. Anschließend müsste er sie nach Hause begleiten und ihr vor der Tür einen sanften Kuss geben – oder einen wilden, bei dem sie alle ihre Ängste vergisst. Und wenn sie ihn in ihre Wohnung bittet, dann … vielleicht …

      „Was soll’s.“ Mit einem energischen Ruck zieht sie das Rollo herunter, stellt den Kaffeebecher auf den Tresen und öffnet die Wohnungstür, um in den Keller zu gehen. Die Waschmaschine muss fertig sein.

      Wie immer am Absatz zur Kellertreppe bleibt sie einen Moment lang stehen, um durchzuatmen. „Verpiss dich, Mimosensumpfkuh. Es sind nur drei Minuten bis zum Lichtschalter und da unten ist niemand. Kapiert?“

      Sie läuft los, reißt die Tür zum Kellerraum auf, sucht fahrig den Schalter und atmet erleichtert aus, als das Neonlicht aufflackert und kurz danach den Raum bis in den hintersten Winkel erleuchtet.

      Während sie die Wäsche aus der Maschine in den Korb fallen lässt, hört sie Schritte und dreht sich um. Hanna tritt ein. Sie ist ebenfalls mit einem vollen Wäschekorb bewaffnet.

      „Hi!“, begrüßt Sina sie freudig. „Du schon am Nachmittag hier? Bist du etwa krank?“

      Hanna winkt ab. „Nein, ich bin früher gegangen, um endlich Überstunden abzufeiern. Und du? Was gibt’s bei dir Neues?“

      Sina seufzt. „Nichts. Ich suche Arbeit und finde keine. Das macht mich langsam wahnsinnig.“ Sie verzieht das Gesicht zu einem ironischen Grinsen. „Irgendwas an mir scheint jedem Arbeitgeber zu signalisieren: Nimm eine andere, bloß nicht die.“

      „Quatsch.“ Hanna stellt den Wäschekorb ab, verschränkt die Arme vor der Brust und runzelt die Stirn. „Es ist schwierig in Hamburg, aber du schaffst das, ganz bestimmt. Gib nicht auf!“

      Sina zuckt mit den Schultern. „Danke fürs Mut machen. Ich stelle ja keine Ansprüche, es muss bloß Vollzeit sein, damit das Geld für meinen Lebensunterhalt reicht.“ Sie stöhnt. „Gestern war ich in einem Callcenter. Ich sollte während des Bewerbungsgespräches einen Test-Werbeanruf durchführen und bekam nicht einen Ton heraus. Es war der Horror.“

      Hanna nickt verständnisvoll. „So einen Job könnte ich auch nicht machen.“ Entschlossen stemmt sie die Hände in die Seiten. „Lass uns heute Abend was trinken gehen. Das wollten wir schon längst, und