Das purpurne Hemdchen. Sara-Maria Lukas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sara-Maria Lukas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783864953118
Скачать книгу
eine gute Freundin von mir. Was ist, hast du Lust?“

      Eine Sekunde lang will Sina ablehnen, doch dann nickt sie zustimmend. Hanna hat recht. Es wird schön sein, einen netten Abend mit ihr zu verbringen, anstatt wieder allein herumzusitzen.

      Zurück in ihrer Wohnung hängt sie die Wäsche auf den kleinen Ständer und klappt den Laptop auf. Die Pläne für den Abend haben ihre Stimmung gewandelt. Aus dem Frust wird Trotz. Sie öffnet die Homepage des privaten Lehrinstituts. Fast jeden Tag hat sie in den letzten Wochen sehnsüchtig darauf geschaut, jetzt klickt sie entschlossen auf den Anmeldebutton. Ja, verdammt noch mal. Anstatt rumzusitzen und Trübsal zu blasen, wird sie endlich die Anmeldung ausfüllen und anfangen zu lernen. Sie wird einen Job finden. Sie wird das Haus verkaufen können, und wenn sie es zum halben Preis hergibt. Es soll jetzt in ihrem neuen Leben weitergehen. Sie schafft das. Irgendwie schafft sie das.

      Der Fußweg ist wirklich nicht lang. Sie sind zur Hauptstraße geschlendert, dann zweihundert Meter geradeaus gelaufen und wieder abgebogen. Sina hat keine Probleme mit der Dunkelheit. Die Nebenstraßen sind zwar menschenleer, was sie nicht gut ertragen kann, aber sie konzentriert sich auf das Licht der Laternen, auf die sie zulaufen. Außerdem lenkt Hannas ausschweifender Bericht über eine blöde Kundin, die mit der selbst gewählten Haarfarbe nicht zufrieden war, sie von allen dummen Gedanken ab. Die Mimosensumpfkuh schläft und Sina ist bester Laune. Sie hat sich geschminkt und trägt einige der neuen Klamotten. Die Bluse unter einer dunkelroten Sweatjacke lässt einen Blick in ihren Ausschnitt zu. Zwar nicht tief, aber immerhin. Hanna hat jedenfalls gefällig genickt und ihr bescheinigt, heiß auszusehen. Ein vergnügtes Grinsen schleicht sich in Sinas Gesicht. So wäre sie in der Kleinstadt nie rumgelaufen, doch jetzt fühlt sie sich wohl und selbstbewusst. Auch wenn nicht gleich alles so klappt, wie sie es sich wünscht, es war richtig, den neuen Anfang zu wagen.

      Von der Ecke aus ist die Leuchtreklame schon zu sehen, obwohl sie noch ein gutes Stück laufen müssen. Das Lokal liegt in einer Biegung der Straße, auf die sie zugehen. So ist der Name bereits von Weitem lesbar. Pimrots Höhle steht auf dem Schild, dessen Stil eher zu einer gewöhnlichen ländlichen Gastwirtschaft als zu einem angesagten Szenelokal passt.

      „Junge Leute trifft man hier wohl nicht?“, fragt Sina etwas enttäuscht und Hanna lacht. „Wenn du Yuppies und Nachwuchs-Managertypen meinst, nein, die treiben sich woanders rum. Hier lernst du alle Arten von netten Menschen kennen. Man könnte sagen, es ist ein Geheimtipp. Das Lokal ist schon seit vielen Generationen im Besitz der Familie Pimrot und die Einrichtung wurde nie großartig verändert.“

      Während sie weitergehen, fällt Sinas Blick drei Häusereingänge vor der Gastwirtschaft auf ein schlichtes Messingschild. Die Buchstaben S, a und m ziehen ihre Augen magisch an. Sam, der Name, an den sie so oft denkt. Dann drängt sich das Wort Foto in ihr Sichtfeld, und ein Schreck fährt ihr durch die Glieder. Sie stockt. Fotoatelier und Bildagentur Samuel Kant. Sie liest es noch einmal und noch einmal und noch einmal. Es stimmt tatsächlich. Kleine Stromstöße jagen durch ihre Adern, ohne dass sie sich dagegen wehren kann.

      „Ist was?“, fragt Hanna.

      „Nein … ich dachte nur …“, sie zeigt auf das Schild, „Ähm … kennst du den Fotografen?“

      „Sam? Ja, der ist Stammgast in Pimrots Höhle. Netter Typ und sieht zum Anbeißen aus. Ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen, aber“, sie formt ein übertriebenes Schmollmündchen, zuckt mit den Schultern und seufzt ergeben, „das tun einige andere ebenfalls nicht, was er, soweit ich weiß, seeehr genießt. Eine langweilige Allerweltstype wie ich hat da keine Chancen.“ Sie grinst. „Auf dich steht er bestimmt. Warum fragst du?“

      „Ach …“, Sina winkt energisch ab, „ich dachte nur gerade, vielleicht sollte ich mal neue Bilder für meine Bewerbungen machen lassen.“

      Hanna nickt. „Professionelle Fotos sind für so was immer besser. Sam arbeitet allerdings für Firmen und Verlage, nicht für private Kunden. Werbung, Illustrationen, so was, aber“, sie zwinkert, „frag ihn ruhig, für eine gut aussehende Frau wie dich macht er sicher eine Ausnahme.“

      Sina schüttelt entschlossen den Kopf. „Nein, es gibt ja genug normale Fotostudios.“

      Sie haben das Lokal erreicht und treten ein. Während ihr Herz aufdringlich hart klopft, jagt Sinas Blick durch den Raum. Was, wenn er da ist?

      An dem langen Tresen auf der linken Seite und den acht rohen Holztischen rechts und im hinteren Bereich sitzen etwa fünfzehn Leute und … sie atmet erleichtert aus, keiner sieht aus wie er. Wieder entspannter, blickt sie sich genauer um. Ja, Hanna hat nicht übertrieben, die Kneipe wirkt wie eine Hafenschenke aus den Neunzehnhundertzwanzigerjahren. Die Atmosphäre erinnert sie an Schwarz-Weiß-Fotos von Hans Albers, diesem berühmten Hamburger Sänger aus der Zeit um den Zweiten Weltkrieg herum. Sie hat mal in einem Buch ihrer Mutter solche Abdrucke gesehen.

      Der einst vermutlich helle Tresen ist fleckig und zerkratzt, an den Wänden hängen vergilbte Poster, Plakate, Postkarten und Erinnerungsstücke aus der ganzen Welt. Auf einem Regal stehen verstaubte Modelle von Segelschiffen. Dass sie auf ihrem Fußweg hierher keine Zeitreise gemacht haben, beweisen lediglich eine Musikbox aus dem zwanzigsten Jahrhundert und zwei moderne Spielautomaten, die in einer halb von der Garderobe verdeckten Nische bunt blinken.

      „Hey Hula“, ertönt eine Frauenstimme und Sina dreht den Kopf. Hinter dem Tresen steht eine junge Frau mit braunen Haaren, die ihnen fröhlich grinsend zuwinkt.

      „Hi Hoopi!“, grüßt Hanna zurück und schlendert auf sie zu.

      „Du warst lange nicht hier“, stellt die Kellnerin fest, die in ihrer schwarzen Jeans, mit den dunkel geschminkten Augen, einem eng anliegenden Shirt und jeder Menge Silberschmuck um den Hals, an Armen und Fingern genauso wenig zur Einrichtung passt wie die Spielautomaten.

      Hanna winkt ab. „Ich muss im Moment so viel arbeiten, dass ich abends keine Lust mehr habe, noch wegzugehen.“ Sie zeigt neben sich. „Das ist meine neue Nachbarin Sina. Sina, das ist meine Freundin Helen Pimrot.“

      Die Frau lächelt offen. „Hi. Schön, dich kennenzulernen. Hast du die kleine Dachwohnung gemietet?“

      Sina grüßt und nickt. „Ja, genau.“

      „Herzlichen Glückwunsch, das ist die gemütlichste Wohnung Hamburgs.“

      „Das finde ich auch. Ich bin sehr glücklich, sie gefunden zu haben.“

      „Helen gehört zur jüngsten Pimrot-Generation. Wir kennen uns schon seit der Schulzeit. Damals nannten unsere Mitschüler uns die Hula Hoops. Seitdem tragen wir diese Spitznamen mit uns herum. Ihre Eltern sind die Besitzer der Kneipe“, erklärt Hanna und wird gleich darauf von einer kleinen, rundlichen, pausbäckigen Frau mit langen blonden Locken in eine Umarmung gezogen.

      „Hallo Jeanette, zerquetsch mich nicht.“ Hanna löst sich übertrieben stöhnend aus der Umklammerung. „Sina, das ist Helens Mutter. Jeanette, das ist Sina, meine neue Nachbarin.“

      Jeanette runzelt die Stirn. „Du sollst nicht immer so laut sagen, dass das Weib da vorn meine Tochter ist. Was denken die Leute, wie alt ich bin“, grummelt sie heiser. Ihre Stimme klingt tiefer und rauer, als sie es bei einer Frau ihrer Größe und Figur erwarten würde. Sina ist etwas verunsichert. Ob das ernst gemeint war oder ein Scherz sein sollte? Sie guckt jedenfalls ziemlich grimmig. Jeanette ist so ganz anders, als man sich eine Mutter vorstellt. Sie trägt, trotz ihrer nicht gerade vorteilhaften Figur, einen schwarzen, engen Lederrock, der nicht über die Knie reicht. Ihr faltiges Gesicht ist stark geschminkt und ihr T-Shirt so tief ausgeschnitten, dass Tante Laura es als höchst unanständig bezeichnen würde. Irgendwie erfüllt sie ziemlich exakt das Klischee einer alternden Puffmutter. So einer Person ist Sina noch nie begegnet. Sie ist nicht sicher, welches Verhalten angebracht ist. Ein reserviertes, aber nicht unfreundliches „Guten Abend“ muss erst mal reichen.

      Tut es auch. Jeanette nickt ihr lächelnd zu, während sie ein frisches Bierglas unter den Zapfhahn hält. „Schön,