»So syg das gsy«, nickte Studer. Er stand auf, beugte sich wieder über den Schreibtisch. Die ausgelegten Karten hatten es ihm angetan.
»Und was habe es für eine Bewandtnis mit den Karten?«
Marie Cleman stützte die Hände auf das Fensterbrett und saß leicht auf dem vorspringenden Absatz, während ihre Fußspitzen den Rand des abgeschabten Teppichs berührten. Dünne Fesseln hatte das Mädchen!…
Die Karten! Das sei eben das Elend gewesen! Darum sei sie von der Mutter fort, erklärte Marie. »Ach!«, seufzte sie, »es ist nicht mehr zum Aushalten gewesen, der ganze Schwindel! Die Dienstmädchen, die zehn Franken zahlten, um zu wissen, ob der Schatz ihnen treu sei; die Kaufleute, die Rat wollten für eine Spekulation; die Politiker, denen die Mutter bestätigen musste, dass sie wieder gewählt würden… Und zum Schluss kam noch der Bankdirektor. Aber dieser Herr kam wegen mir. Und wissen Sie, Onkel Studer, ich glaub’, die Mutter schien nicht einmal etwas dagegen zu haben, dass ich mit dem Bankdirektor… Da bin ich eines Tages abgereist…«
Studer war aufgefahren. Er stand dem Meitschi gegenüber. Wie hatte ihn die Marie genannt? Onkel Studer? Das verschlug ihm den Atem… Aber, b’hüetis, was war dabei? Er hatte das Meitschi geduzt, nach alter Berner Manier. Hatte da die Marie nicht ebenfalls das Recht auf eine gewisse Familiarität? Onkel Studer! Es wärmte… Exakt wie Bätziwasser.
»Wenn du schon«, sagte Studer, und seine Stimme klang ein wenig heiser, »Onkel sagst, dann sag wenigstens: Vetter Jakob. Onkel! Das sagen die Schwaben…«
Marie war rot geworden. Sie blickte dem Wachtmeister ins Gesicht und sie hatte eine besondere Art, die Leute anzusehen: nicht eigentlich prüfend, mehr erstaunt – ruhig erstaunt, hätte man es nennen können. Studer fand, diese Art des Anschauens passe zu dem Mädchen. Aber er konnte sich vorstellen, dass sie anderen Leuten auf die Nerven fiel.
»Gut! Also!«, sagte Marie. »Vetter Jakob!« Und gab dem Wachtmeister die Hand. Die Hand war klein, kräftig. Studer räusperte sich.
»Du bist abgereist… schön. Nach Paris hat mir dein Onkel erzählt. Mit wem?«
»Mit dem ehemaligen Sekretär meines Vaters. Koller hieß er. Er kam uns einmal besuchen und erzählte, er habe sich selbstständig gemacht und brauche jemanden, zu dem er Vertrauen haben könne. Ob ich ihn begleiten wolle, als Stenotypistin? Ich hatte die Handelsschule besucht und sagte ja…«
Pelzjackett, seidene Strümpfe, Wildlederschuhe… Langte das Salär einer Sekretärin für so teure Anschaffungen? Studer vergrub die Hände in den Hosensäcken. Ihm war ein wenig traurig zumute; darum rundete er den Rücken und fragte:
»Warum bist du jetzt auf einmal zur Mutter gefahren?«
Wieder der merkwürdig prüfende Blick.
»Warum?«, wiederholte Marie. »Weil der Koller plötzlich verschwunden ist. Von einem Tag auf den anderen. Vor drei Monaten, dreieinhalb. Genau: am fünfzehnten September. Viertausend Franzosenfranken hat er mir zurückgelassen, und mit dem Geld hab’ ich gelangt – bis Ende Dezember. Da hab’ ich grad noch genug gehabt, um nach Basel zu fahren.«
»Warum bist du nicht mit deinem Onkel gefahren?«
»Er hat allein fahren wollen.«
»Hast du das Verschwinden angezeigt?«
»Ja. Auf der Polizei. Sie hat die Papiere beschlagnahmt… Ein gewisser Madelin hat sich um die Sache gekümmert. Einmal hat er mich vorgeladen…«
Ein Satz!… Ein Satz!… War er nicht zu erwischen, der Satz, den Kommissär Madelin gesprochen hatte, an jenem Abend, da Studer ihm das Telegramm vom neuen Jakobli gezeigt hatte? Was hatte Madelin da zum lebendigen Konversationslexikon Godofrey gesprochen:
»… Es stimmt etwas nicht mit den Papieren des Koller…« Das war es. Handelte es sich um den gleichen Koller?
Studer fragte:
»Wo hat deine Mutter die Andenken an deinen Vater aufbewahrt?«
»Im Schreibtisch«, erwiderte Marie und wandte dem Raume wieder den Rücken zu. »In der zweituntersten Schublade.«
In der zweituntersten Schublade…
Sie war leer. Doch das allein wäre nicht allzu auffällig gewesen.
Auffällig aber war, dass der Einbrecher, der sie aufgebrochen hatte, sorgsam ein abgesplittertes Stück Holz wieder eingesetzt hatte. Studer schob die leere Schublade zu, dann folgte er dem Beispiel seines Vorgängers und passte das Holzstückchen genau an seinen Platz. Er richtete sich auf, zog sein Nastuch aus der Tasche, beugte sich noch einmal zur Schublade herab und rieb dort alles sauber. Dazu murmelte er: »Man kann nie wissen…«
»Finden Sie etwas, Vetter Jakob?«, fragte Marie, ohne sich umzuwenden.
»Die Mutter hat’s wohl an einem anderen Ort verräumt…«, brummte Studer. Und lauter fügte er hinzu: »Die erste Frau deines Vaters wohnt also in Bern und heißt…« Studer schlug sein Notizbuch auf, aber Marie kam ihm zuvor:
»Hornuss heißt sie, Sophie Hornuss, Gerechtigkeitsgasse 44. Sie war die ältere Schwester meiner Mutter und eigentlich meine Tante, wenn Sie so wollen…«
»G’späßige Familienverhältnisse«, stellte Studer trocken fest.
Marie lächelte. Dann verschwand das Lächeln und ihre Augen wurden dunkel und traurig. – Das habe sie manchmal auch gefunden, meinte sie, und Studer schalt sich einen Dubel, weil seine dumme Bemerkung dem Meitschi sicher Kummer gemacht hatte…
Im Flur kamen Schritte näher. Die aufgesprengte Tür kreischte in ihren Angeln und eine Stimme erkundigte sich, ob hier jemand Selbstmord begangen habe. – Es müsse wohl hier sein, sagte eine zweite Stimme, es stehe ja am Türpfosten! Cleman! Und fügte hinzu: »Äbe joo«, und da habe man die Bescherung.
Studer kehrte in die kleine Küche zurück und stieß dort mit einem Uniformierten zusammen. Der Stoß war weich, denn der Sanitätspolizist war dick, rosig und glatt wie ein Säugling. Er schien ständig ein Gähnen unterdrücken zu müssen, überschüttete den Wachtmeister mit einem Schwall von Fragen, die tapfer mit »jä« und »joo« gewürzt waren. Außerdem gurgelte der Mann mit den »R« wie mit Mundwasser, anstatt sie ordentlich, wie sonstige Schweizer Christenmenschen, mit der Zunge gegen den Vordergaumen zu rollen. Der Herr Gerichtsarzt war alt und sein Schnauz vom vielen Zigarettenrauchen