Da – eines Mittags, ein leiser Schleierdunst über der Kuppel des Charlottenburger Schlosses, das über Baumwipfel hinweg zum Krankenhause herübergrüßte. Bei der Mittagstafel hatte dieser zartweiße Dunst einen so lebhaften Gesprächsstoff ergeben, wie nur je ein interessanter Krankheitsfall. Die einen meinten, es ziehe herauf, die andern, es sei noch gar keine Aussicht auf Abkühlung.
Als Annemarie nach Tisch ihr Krankenjournal erledigt hatte, war der feine Dunst schon zu weißlichen Dampfwölkchen verdichtet. Als man mit der Nachmittagsvisite fertig war, segelten grauschwarze Wolken wie aufgescheuchte Raubvögel um den Schloßturm.
Jetzt stand Annemarie im Portal des Krankenhauses und blickte prüfend in die drohenden Wolkenmassen. Ob sie noch trocken zu Vera kam? Die Freundin erwartete sie, und wenn sie erst heimfuhr, um sich Mantel und Schirm zu holen, wurde es spät. Ach was – das Wetter drohte ja schon seit Stunden. So schnell entlud es sich nicht. Und wenn auch – Annemarie hätte nicht Doktors leichtsinnig unbekümmertes Nesthäkchen sein müssen, um sich von ein paar Wolken ins Bockshorn jagen zu lassen.
Freilich, sie hatte noch ein Stück Weges zu gehen bis zum Schloß. Von dort aus konnte sie dann die elektrische Bahn benutzen. Vorwärts!
Nachdem das junge Mädchen etwa fünf Minuten trotz der Schwüle im Eiltempo gelaufen war, sielen die ersten Tropfen. Schwer und langsam. Umkehren? Ausgeschlossen! Es war ja gar nicht mehr weit bis zum Schloß. Und die himmlische Wäsche konnte ihrem weißen Sommerkleid nicht viel schaden. Annemarie beschleunigte ihr Tempo.
Schneller aber noch als sie war der Gewitterregen. Wolkenbruchartig rauschte er plötzlich wie eine Dusche über Doktors Nesthäkchen herab. Blitze zuckten wie gelbe Schlangen. Donner krachte.
»Fräulein Annemarie – Fräulein Annemarie –!« narrte sie der Gewittersturm oder war das wirklich Rudolf Hartensteins Stimme hinter ihr?
Annemarie jagte weiter, vom Sturm vorwärts getrieben. Nicht einmal den Kopf vermochte sie zu wenden.
»Fräulein Annemarie –!« da hatte er sie erreicht.
Ein schwarzes Regendach wölbte sich über ihre triefenden Blondhaare. Ein Gummimantel hing ihr plötzlich schützend über dem durchweichten Kleid.
»Was laufen’s denn gar so arg, Fräulein Kollega, nehmen’s mich doch mit«, meinte Rudolf, nachdem er wieder Atem schöpfen konnte. »Sie sind ja gut ausg’waschen. Kommen’s nur ein bißle näher, einhaken mögen’s ja nit, gelt? ‘s geht halt auch so!« Er hielt den Schirm schräg über ihr Haupt, ungeachtet dessen, daß er nun selbst naß wurde.
Ihn unterfassen? Nein! Erst heute vormittag hatte er sie wieder geärgert. Sie sei viel zu huschelig, um Ärztin zu werden, hatte er gemeint. Daran dachte er scheinbar nicht mehr. Er hatte wirklich ein kurzes Gedächtnis.
Blitz und Donner zugleich – ohrenbetäubend – als ob die Erde plötzlich auseinanderberste und Feuer spie. Unwillkürlich griff Annemarie schutzsuchend nach dem Arm ihres Begleiters. Der tat, als merke er die kleine, nasse Hand nicht, die sich an seinen Arm klammerte.
»Haben’s nur keine Angst, ‘s geschieht Ihnen nix«, tröstete er.
Was – er hielt sie am Ende gar für feige? Jäh sank Annemaries Hand wieder herab. »Ich kenne keine Gewitterfurcht, nur erschreckt hatte ich mich«, sagte sie möglichst keck.
Er lächelte.
»Wir waren halt schon mal bei so einem arg bösen Wetter beieinand’.«
»Ja, in der Nebelhöhle –« entfuhr es Annemarie.
»Ich meint’, halt in Blaubeuren auf dem Rusenschloß. An die Nebelhöhle hab’ ich nimmer g’dacht«, behauptete Rudolf.
Doktors Nesthäkchen biß sich auf die Lippen. O Gott, er würde doch nicht etwa annehmen, daß sie ihn an die Nebelhöhle, die seinem Gedächtnis ganz entschwunden war, hatte erinnern wollen? Nur das nicht!
Sie hatten die Rokokohalle, die in den Charlottenburger Schloßgarten führte, erreicht. Hier fanden sie Schutz vor Regen und Sturm. Draußen rauschte es wie ein Gießbach vom Himmel herab. Es heulte in den Baumwipfeln, knackte in den Ästen. Ganz allein waren die beiden. Nur kleine Steinamoretten, Rosengirlanden in den Händen, schauten pausbäckig von der Decke herab.
Still war es zwischen ihnen geworden.
»Fräulein Annemarie – wollen’s meinem Gedächtnis nit ein bißle nachhelfen?« In bangforschender Frage hingen Rudolfs Augen an Annemaries jede Regung offenbarenden Zügen.
Es zuckte darin – es kämpfte – Trotz, Stolz, Liebe und Nachgiebigkeit. Immer weicher wurde der Ausdruck ihres Gesichtes, je länger sie Rudolfs guten Blick auf sich fühlte. Da war er wieder, der Herzenston, der so lange verstummt gewesene.
»Haben Sie die Nebelhöhle denn ganz vergessen?« Leise, ganz leise kamen diese Worte von Annemarie zu ihm.
»Darf ich daran denken, Annemarie?« Er griff nach ihren kalten Händen.
»Manchmal – mal ein bißchen – wenn – wenn Sie mich anranzen wollen, wie heute vormittag.« Vergeblich versuchte Annemarie zu scherzen. Wo war all ihre Keckheit hin?
»Nein, Annemarie – das mag ich nimmer. Einschränkungen lass’ ich mir nit auferlegen. Alles will ich halt – dich ganz und gar. Gelt, jetzt sperrst dich nimmer, Herzle? Gelt, hast es halt eing’sehen, daß wir beid’ zueinander gehören – daß nix uns zu trennen vermag?« Kühn schlang er den Arm um die neben ihm Stehende.
»Nicht anfassen – ich bin naß wie eine Katze!« wehrte Doktors Nesthäkchen, barg aber ungeachtet dieser Worte den nassen Kopf an Rudolfs nicht minder feuchter Brust.
»Annemarie, ich wart’ halt auf die Antwort –«, drängte er.
»Die wissen Sie doch selbst. Daß ich Sie lieb hab’, trotzdem Sie mich jetzt so oft angesäuselt haben, das wissen Sie seit der Nebelhöhle. Und daß – daß ich Ihre Frau nicht werden kann, das hab’ ich Ihnen doch auf dem Ulmer Münster auseinandergesetzt.« Annemarie zitterte vor Erregung. Sie weinte.
»Ruhig, Herzle, ruhig! Was drunten unter der Erde begonnen und droben in den Lüften nimmer zunichte werden könnt’, das soll jetzt auf der Erde uns fest miteinander verbinden. Es sind ja Hirngespinste, Annemarie, die du als Trennungsgründe anschaust. Dein Vater ist der letzte, der sich dem Glück seines Kindes in den Weg stellen würde. Und schlimmstenfalls meld’ ich mich bei ihm als Ersatzmann. Also ich denk’, du fügst dich, mein Lieb – wenn’s auch das erstemal in deinem Leben ist.« Er küßte ihr die Tränen von den Augen.
»Und Ola?« warf Annemarie noch pflichtschuldigst ein.
»Ola wird am End’ auch einen – Ersatzmann finden«, scherzte Rudolf in seligem Glück. »Hast es nimmer g’merkt, Herzle, daß der Hans und die Ola einander mögen? Dein Bruder und ich, wir haben bereits Schwagerschaft miteinander getrunken.«
»Ohne uns zu fragen?« begehrte Annemarie auf. Und dann plötzlich, die ganze Glücksübermacht erst richtig fassend, schlang sie jubelnd beide Arme um Rudolfs Hals: »Dann darf ich Sie lieb haben!«
»Sie darfst nimmer lieb haben – Du bin ich und Rudi, verstehst?«
»Das werde ich nicht lernen – dazu hab’ ich zu viel Respekt vor meinem Herrn Vorgesetzten«, klagte Annemarie mit drolligem Ernst.
»Bis zu unserer Silberhochzeit wirst’s halt können, gelt, mein Nesthäkchen, mein lieb’s?«
»Halt – Nesthäkchen dürfen Sie mich nicht nennen! Das wär’ ja noch schöner, wenn ich als – als – na ja, als Braut auch noch Nesthäkchen genannt werde. Dagegen protestiere ich ganz energisch.« Alle Weichheit war von Annemarie gewichen. Sie war wieder das übermütige Mädel, das es dem jungen Mediziner sofort in Würzburg angetan hatte. Nur ein seliger Glückston schwang bei allem Übermut mit.
»Schön