»Ja – tatsächlich – das sind sie – Mutti – Muz –.«
Annemarie schrie es hinab.
»Dreht sich’s Mutterle schon um, Neschthäkche?« neckte die Viehmuse. »Guete Lunge muscht halt habe, wenn’s vom Ulmer Münster bis auf den Platz ‘nunterschreie kannscht.«
Annemarie hörte gar nicht, was er sagte. »Kommt runter, schnell, schnell!«
»Immer mit de Ruhe!« dämpfte Hans die aufgeregte Schwester. »Erst wollen wir mal sehen, wohin Doktor Brauns ihre Schritte lenken werden.« Er beobachtete durchs Fernglas. »Aha – ins Münster-Café – schönchen, da erwischen wir sie.«
Man machte sich daran, die Himmelsleiter wieder hinabzuklimmen. Annemarie wußte nichts mehr von irgendeiner Schwindelanwandlung, nichts davon, daß sie sich vor dem Abstieg gefürchtet hatte. Die bevorstehende Wiedersehensfreude drängte jede andere Empfindung in den Hintergrund. Hans und Rudolf hatten sie nur immer zurückzuhalten, daß sie nicht in allzu beschleunigtem Tempo die Stufen in die Tiefe hinabsauste.
Endlich war man aus dem Wolkenreich wieder auf der Erde gelandet. Endlich konnte Annemarie ins Münster-Café hineinstürmen. Was fragte Doktors Nesthäkchen danach, daß es die Blicke aller Umsitzenden auf sich zog. Daß es entschieden ein etwas merkwürdiger Anblick ist, wenn eine junge Dame sich plötzlich in einem öffentlichen Lokal jubelnd an den Hals eines Herrn wirft. Daß man auch Damen im allgemeinen dort nicht mit dem Jubelruf »Muzi, meine geliebte Muzi!« und einem Dutzend Küsse zu begrüßen pflegt. Annemarie fühlte sich durchaus nicht mehr als junge Dame. Sie war wieder das kleine Nesthäkchen, das mit strahlendem Gesicht zwischen Vater und Mutter saß und sich den Apfelkuchen schmecken ließ.
Ach, nun war alles wieder gut – alles! Mutti hielt die Hand ihrer Lotte in der ihrigen, und Vater nannte sie scherzend schon heute seine »Assistentin«. Da konnte es doch gar nicht so schwer sein, auf ein anderes neues Glück zu verzichten. Besonders da Rudolf Hartenstein nach der Aussprache, vor der sie so gebangt, eine ungezwungene freundschaftliche Art ihr gegenüber zeigte und auch ihr dadurch ihre frühere Unbefangenheit zurückgab.
Ein gemeinsamer froher Abend an der blauen Donau beschloß die schwäbische Wanderfahrt. Doktors Nesthäkchen bildete wieder einmal den Mittelpunkt der Witze und Neckereien. Daß es den Ulmer Münster bestiegen hatte, um nichts weiter von dort oben zu sehen als die Eltern, gab als letzten Schwabenstreich endlosen Stoff zur Heiterkeit. Aber auch an anderm »Stoff« fehlte es nicht. Dr. Braun feierte das Zusammensein mit den Freunden seines Nesthäkchens durch eine unverwässerte Pfirsichbowle, welche die fidele Viehmuse noch fideler machte und Neumanns melancholische Karpfenaugen noch melancholischer.
Am nächsten Morgen trennte man sich nach allen Richtungen hin. Doktors Nesthäkchen zog mit den Eltern und dem Bruder in Gesellschaft des Hartensteinschen Geschwisterpaares sonnigen Ferientagen in dem alten Klosterstädtchen Blaubeuren entgegen.
12. Kapitel
Im wunderschönen Monat Mai
Ja, goldene Tage voll Sonnenglanz, Waldesduft und Tannenrauschen waren es gewesen, dort zwischen dem Felsengezack an der leisplätschernden Blau. Wenn Doktors Nesthäkchen an jene Zeit zurückdenkt, dann hat es die Erinnerung wie an ein schönes Märchen, das man in längst entschwundenen Kindertagen einmal geträumt. Unwirklich schön war es gewesen an dem märchenhaften Blautopf, jenem leuchtendblauen Waldsee, der wie ein kostbarer Saphir, von uralten, moosbärtigen Buchenriesen bewacht, in tiefster Waldeseinsamkeit verborgen liegt. Die Mühle singt ihr eintöniges Lied, und das alte Kloster spiegelt sich in der sagenumsponnenen, geheimnisvollen Tiefe. Hier hatte Rudolf Hartenstein ihnen Mörikes »Hutzelmännchen«, die am Blautopf spielen, vorgelesen.
Wie lange war das her! Sonnentage entschwinden – Menschen gehen auseinander. Regengraue Herbsttage brachten einförmig graue Arbeit. Nur unterbrochen von fröhlich geselligem Beisammensein mit den Freunden; von anregenden Plauderabenden bei Professor Bergholz; von den Briefen der Lieben. Manchmal, nicht allzu oft, brachte der Postbote einen Brief größeren Formats an Fräulein Annemarie Braun, der nach Lysol duftete und Krankenhaus Westend als Aufdruck zeigte. Der wurde etwas hastiger geöffnet als die übrigen und stets mit einer ganz kleinen Enttäuschung, welche die Leserin nicht einmal sich selbst zugestand, beiseitegelegt, wieder vorgeholt und wieder gelesen. Bis sie fast jedes Wort auswendig konnte.
Lieb und freundschaftlich waren diese Briefe. Sie erzählten von angestrengter Tätigkeit im Krankenhaus Westend, in dem Rudolf Hartenstein durch ihres Vaters Freund, der dort Direktor war, angestellt worden war. Von manch gemütlichem Abend in ihrem Elternhause berichteten sie, von Musik-und Theatergenüssen in Gemeinschaft mit ihrem Bruder Hans. Sie fragten nach allem, was Annemarie betraf, und doch – was war es nur, wonach Annemarie vergebens forschte?
Soviel sie auch zwischen den Zeilen zu lesen versuchte, der warm-innige Herzenston, der sie bei ihrer gemeinsamen Sommerfahrt durchs Schwabenland so selig beklommen gemacht, er wollte nicht wieder erklingen. Tief unter der Erde hatte er zum ersten Male an ihre Seele gerührt, zwischen Himmel und Erde hoch droben auf dem Münster hatte sie ihn selbst verstummen gemacht. Warum war sie denn nicht zufrieden? Sie hatte doch erreicht, was sie wollte.
Weihnachtslichter hatten mit ihrem Strahlenglanz emsige, gleichmäßige Studienarbeit erhellt. Im Dreimäderlhaus blitzte unten das bunte Christbäumle mit Zuckerle, das Vronli und Kaschperle jubelnd umtanzten, droben der lichte Schneebaum, an dem Neumann als Längster die Lichter entzünden mußte. Statt Studentenweisen waren Weihnachtslieder zur Laute in die klare Sternennacht hinausgezogen. Eine urfidele Bescherung, bei der ein jedes einen Scherzgegenstand mit bezüglichen Versen erhielt, hatte das Heimweh, das der Anblick des Lichterbaums bei dieser und jenem auslöste, schnell zerstreut. Da gab es Pflaumen, das Stück zu dreißig Mark, einen kleinen, schwer mit Säcken beladenen Esel, ja, sogar eine Puppe, die verzweifelte Ähnlichkeit mit dem schnauzbärtigen Zollbeamten hatte. Nesthäkchens Schwabenstreiche wurden wieder mal aus der Vergessenheit hervorgezogen.
Das neue Jahr hatte statt mit Eispanzer und Schellengeläut mit linden Frühlingstagen seinen Einzug in den Schwabengau gehalten. Vergeblich hoffte die Jugend auf Schnee, um Rodelschlitten und Schier in Betrieb zu setzen. Erst der März stülpte den alten Giebelhäusern die winterliche Nachtmütze über die Ohren.
Weiße Ostern – für Doktors Nesthäkchen bedeuteten sie den Schlußstein des Tübinger Universitätsjahres. Die Trennung von dem liebvertrauten Gäßle, vom Dreimäderlhaus und sämtlichen Kirchenmäusen war recht schwer gefallen. Vroni und Kaschperle hatten den Hals des Tanteli umstrickt, als ob sie ihr vor lauter Trennungsweh den Garaus machen wollten. Frau Veronika hatte immer wieder versichert: »So a arg liab’s Fräuli hab i nimmer nit im Haus’ g’habt.« Herr Nepomuk hatte ihretwegen sogar seine ewige Pfeife ausgehen lassen.
Am betrübtesten aber waren die Freunde gewesen, die weiblichen sowohl wie die männlichen. Marlene und Ilse, die Inseparables, sollten auch noch das Sommersemester in Tübingen zubringen. Aber Annemarie war energisch von den Eltern »reklamiert« worden. Doktor Brauns wollten jetzt endlich mal ihre große Tochter im Hause haben.
»Was fangen wir bloß im Dreimäderlhaus ohne dich an, Annemie!« So hatte Marlene geklagt.
»Selbst wenn du uns das Essen anbrennen läßt, und überall deine Sachen herumschmeißt, ich wollte doch, du bliebst bei uns, Annemiechen.« Ilse hatte tatsächlich Tränen in den Augen gehabt.
Auch Neumanns Karpfenaugen hatten dreingeschaut, als ob sie weinen wollten. »Neschthäkche, Neschthäkche – du bischt halt die beschte g’wese.« Das hatten ihm die andern jungen Damen durchaus nicht übelgenommen. Sie waren ja der gleichen Meinung.
Am letzten Abend hatte die Viehmuse noch eine Fackelpolonäse mit Zapfenstreich in Szene gesetzt. Dann wurde bis früh um fünf bei Frau Veronikas Gugelhopf Abschied gefeiert. Um sechs war dann