»Aber nicht, um mich wie ein dummes Ding abkanzeln zu lassen«, sprudelte es da von Annemaries Lippen. »Wenn die Kleinen nicht wären mit ihrer Zärtlichkeit, hielt ich es überhaupt hier nicht aus. Mit einem guten Wort kann man alles bei mir erreichen. Aber Zurechtweisungen gegenüber werde ich störrisch – die verbitte ich mir.«
»So–o«, sagte Dr. Hartenstein und suchte vergeblich ein belustigtes Schmunzeln zu verbergen. »Ich hab’ halt geglaubt, es tät’ Ihnen nimmer was an liebevoller Behandlung liegen.«
»Aber an höflicher!« Doktors Nesthäkchen schoß das Blut ins Gesicht. »Schlimm genug, daß ich Ihnen das erst sagen muß.« Der Mund lief wieder mal mit ihr davon.
»Sie haben mir halt schon so manches gesagt, was Ihnen am End’ hinterher leid gewesen ist. Ich will annehmen, daß es mit Ihren letzten Worten das gleiche sein wird.« Das klang wieder ernst zurechtweisend.
Rudolf Hartenstein öffnete die Tür zur Frauenabteilung. Nur noch sachliche Worte fielen. Auch später bei dem gemeinsamen Mittagessen der Ärzte und Ärztinnen sprachen sie nicht miteinander. Als Jüngste hatte Annemarie ihren Platz ganz am Ende des Tisches. Für gewöhnlich nahm sie überhaupt nicht an der Mahlzeit teil, sondern pflegte zu Hannes Ärger daheim nachzuexerzieren. Nur wenn sie »Tagesdienst« hatte, speiste sie mit den andern. Die Assistenzärzte und die Volontäre, männlichen wie weiblichen Geschlechts, mochten die ebenso liebenswürdige wie liebreizende junge Studentin gern. »Unser Nesthäkchen« hatte eine der älteren Ärztinnen sie eines Tages genannt, und die andern hatten die Bezeichnung lachend aufgegriffen. So war Doktors Nesthäkchen der Kindername selbst ins ernste Krankenhaus gefolgt. Nur Rudolf gebrauchte den Scherznamen nicht. Er nannte sie dienstlich Fräulein Kollega, privatim Fräulein Annemarie.
Bei Doktor Brauns saß man abends auf dem in maigrüne Lindenwipfel hinausgehenden Balkon. Vera Burkhard und Margot Thielen waren zu Besuch bei Annemarie. Denn diese hatte jetzt nur noch abends Zeit für die Freundinnen. Die dienstfreien Nachmittage studierte Annemarie medizinische Bücher, um möglichst bald das Physikum machen zu können.
»Na, so ‘ne Varricktheit!« Hanne machte ein Gesicht wie eine Bulldogge – »nu haben wa unser Nesthäkchen jlücklich wieder, und es is jrade so, als ob se noch mang de Schwaben wäre.« Hanne hatte keine ganz klare Vorstellung von den Schwaben. Sie mußte immer dabei an die ekligen schwarzen Käfer denken, die des Nachts öfters aus der Wasserleitung hervorgekrochen kamen. »Morjens in aller Herrjottsfriehe jeht se schon heidi ins Klinik, und meistens jeht se abends erst wieder auf wie der Mond. Zeit is doch nu wirklich, daß se ooch mal was Reelles lernen tut. Was de jnädje Frau Jroßmamachen is, die tut janz jenau so denken wie ich. Aber die Herren Eltern wollen ja nu mal keine Vernunft nich annehmen.« So beklagte sich die treue Alte bei jedem, der’s hören wollte oder nicht.
Frau Doktor mußte fast täglich Hannes Herzensergüsse über sich ergehen lassen. Sie begegnete denselben mit Humor. Gott, sie hatte sich eigentlich ja auch vorgestellt, daß sie mal mehr von ihrer erwachsenen Tochter haben würde. Sie hätte sie recht gern während der Sommermonate daheim behalten. Aber davon wollte weder ihr Mann, noch Annemarie etwas wissen. Und wenn man im Krankenhaus tätig ist, kann man nicht zu gleicher Zeit hauswirtschaftliche Pflichten erfüllen. Das sah die verständige Frau ein. Ihr Mann fand es erstaunlich, wie strebsam und zielbewußt ihr übermütiges Nesthäkchen geworden war. Er hätte es seiner lustigen Lotte nie zugetraut, daß sie so viel Ernst und Beharrlichkeit für das Studium aufbringen würde. Und wenn es zum Glücke ihres Kindes war, mußte sich Mutterliebe selbstlos bescheiden.
Ja, aber war es denn auch zu ihres Nesthäkchens Glück? War ihre Lotte wirklich frohbefriedigt durch ihre Tätigkeit am Krankenhaus? Mutteraugen sehen mehr als andere Augen. Die bemerken den feinen Schleier, der manchmal über strahlenden Blicken hängt – keinem andern sichtbar. Die sehen durch überschäumende Lustigkeit hindurch öfters etwas Gezwungenes. Auch Nesthäkchens Mund ist nicht mehr der lachende Kindermund von früher. Kaum merkbar sind seine Winkel herabgezogen, als wolle er weinen und dürfe nicht.
Kein anderer sieht das. Vater ist glücklich, wie glänzend seinem Mädel das Jahr in Tübingen körperlich sowohl wie geistig bekommen ist. Sein Blick ruht immer wieder auf seinem anmutigen Nesthäkchen. Annemaries Gesicht ist nicht so regelmäßig schön wie die feinen, blassen Züge von Vera Burkhard. Dafür ist es jugendfrisch und blühend.
»Annemie – Marrgot und ich, wirr brringen dich zwei Neuigkeiten mit – rrate!« begann Vera aufgeregt.
»Ihr habt euch verlobt?« Klaus, der jetzt ebenfalls wieder daheim war, kam seiner Schwester zuvor.
»Wir beide miteinander?« lachte Margot.
»Viel, viel schönerr. Ihrr Männerr denkt immerr, alles drreht sich in die Welt nurr um euerr Wenigkeit. Ich werrde zu Herrbst eine künstlerrische Atelier fürr Kinderrbildnisse erröffnen. Ich haben geschickt auf das Ausstellung fürr künstlerrische Photogrraphie und sein worrden prrämiierrt.« Veras zartes Gesicht strahlte.
»Wie freue ich mich für dich. Verachen, daß du so schöne Erfolge hast«, stimmte Annemarie in die Freude mit ein.
»Unser Mastvieh auf der pommerschen Klitsche wurde auch vorigen Herbst prämiiert.« Der Klaus war doch immer noch solch ein Frechdachs wie früher.
»Als höfliches Kavalierr du würrdest werrden niemals prrämiierrt, Klaus.« Wenn die Freundinnen da waren, gab es Neckereien und Wortgeplänkel wie einst in Kindertagen.
Margot druckste. Sie wollte so gern ihre Neuigkeit ebenfalls los werden.
»Ich – –« begann sie.
»Höfliches Kavalier wird man nicht unter Kühen und Ochsen.« Klaus zuckte gleichmütig die Achseln.
»Na, erlaube mal gefälligst«, legte Nesthäkchen los. »Die Hauptzeit deines Lebens hast du doch wohl nicht unter Kühen und Ochsen verbracht.«
»Dann waren es Gänse.«
»Ich habe ebenfalls – – –«, mit ihrer immer noch bescheidenen Schüchternheit versuchte Margot vergeblich, in dem Lachen sich Gehör zu verschaffen.
»Was hast du ebenfalls, Margot? Dein Leben unter Gänsen zugebracht? Ich habe, soweit es euer Kränzchen betrifft, niemals daran gezweifelt.«
»Der Klaus ist schrecklich verwildert. Der reine Bauer ist er geworden. Das wird viel Mühe kosten, ihn wieder zu kultivieren«, seufzte Annemarie drollig.
»Kinder, nun laßt doch bloß mal Margot ihre Neuigkeit loswerden. Sie erstickt ja sonst«, unterbrach Hans die Übermütigen.
»Richtig! Auch ein prämiiertes Mastvieh?« Klaus entfesselte wieder eine Lachsalve. Denn auf die überschlanke Margot angewandt, wirkte die Bezeichnung besonders komisch.
Margot schwieg beleidigt. Die Empfindlichkeit hatte sie aus ihren Backfischtagen ins Leben mit hinübergenommen.
»Beleimigt?« Klaus schnitt eine Grimasse. »Zimpfere Stadtjungfer! Da – zur Versöhnung!« Er schob ihr ein Praliné zwischen die Lippen.
»Kinder, ihr müßt den Spaß nicht zu weit treiben«, lenkte Frau Braun ein. »Also, Margot, jetzt berichte du uns.«
Margot schluckte ihre Empfindlichkeit mit dem Praliné zugleich hinunter.
»Ich bin an einem Verlage für Entwürfe von Buchschmuck angestellt worden«, berichtete sie jetzt doch wieder freudig stolz.
»Gratuliere, großartig, was ihr schon erreicht habt! Und unsereins krabbelt immer noch auf der untersten Stufe der Wissenschaftsleiter herum. Eigentlich könnte ich euch beneiden.« Annemarie seufzte.
»Dafürr steigen du späterr um so höherr auf das Leiterr herrauf«, tröstete Vera.
»Und Vaters Assistentin zu werden, ist gar nichts – he, du Schlingel?« Dr. Braun hob das Gesicht seiner Jüngsten zu sich empor. »Bist ja so kleinlaut, Lotte. War dein Herr Lehrer heute nicht mit dir zufrieden?«
Annemarie stimmte in das Lachen der andern über Vaters