»Solle mer halt auch liaber drunte bleibe und ‘s Neschthäkche auffange, wenn’s ang’floge kommt?« erkundigte sich die Viehmuse, ehe man die Turmkarten löste, vorsorglich.
Ein freundschaftlicher Rippenstoß schloß ihm den spöttischen Mund.
Die Schwaben voran, Annemarie in der Mitte zwischen Hans und Rudolf – damit man ganz sicher ging, daß sie keine Dummheiten machte –, so setzten sich die Hochtouristen in Bewegung.
»Nimmer ‘nunterschauen, immer gerad’ aus!« riet Rudolf.
Es ging wunderschön. Die leichtfüßige Annemarie kletterte wie eine Gemse. Sie merkte es gar nicht, daß sie bereits dreihundert Stufen gestiegen waren. Weiter – immer weiter! Der Turm wurde enger. Die Wendeltreppe zog sich wie ein Korkenzieher in endlose Höhe. Durch die durchbrochenen Turmwände sah man rote Ziegeldächer, schwarze Schornsteine, Giebelspitzen tiefer und tiefer zur Erde zurückkriechen. Weiter, immer weiter, – war man denn noch nicht im Himmel?
Annemaries Schritt wurde langsamer. Sie hatte Herzklopfen. Die beiden Schwaben und Hans kletterten unentwegt weiter.
»Bist müd’, Herzle?« Mit liebevoller Sorge empfand es Rudolf, daß Annemarie unfrisch wurde. »Wollen wir nit umkehren?«
»Nein – nein – nur einen Augenblick verschnaufen und –« sie verstummte. Er hatte sie schon wieder geduzt. Schon wieder gebrauchte er den Kosenamen, der so lieb klang, und den sie sich doch nicht gefallen lassen durfte. Überhaupt, jetzt war es die beste Gelegenheit, ihm zu sagen, was doch nun mal gesagt werden mußte. Hier oben hörte sie kein Mensch. Wer weiß, wann sie ihn wieder mal allein sprechen konnte. Klar sollte es zwischen ihnen sein, noch bevor die Eltern kamen.
»Herr Doktor –«, begann sie energisch.
»Jawohl, Fräulein Braun«, gab er scherzhaft zurück.
»Ich möchte Sie bitten, die Begebenheit in der Nebelhöhle zu vergessen.« Sie fühlte, daß sie rot wurde.
»Ihr Wunsch ist mir Befehl – nur glaub’ ich halt, das wird nit gut möglich sein.« Er lächelte noch immer belustigt.
»Doch – es muß möglich sein!« Annemarie starrte unentwegt auf ein steinernes, lindwurmartiges Ungeheuer, das aus dem durchbrochenen Turmdach als Träger in die Lüfte hinausfletschte. »Unsere Wege müssen sich unbedingt trennen.«
Rudolf wurde ernst. Sie sah so blaß aus, ihre Stimme klang gezwungen, es war augenscheinlich, daß sie seelisch litt.
»Und warum, Annemarie?«
»Weil – mein Vater hat mir nur die Erlaubnis zum Studium gegeben, damit ich später mal seine Assistentin werde. Ich darf ihn nicht enttäuschen.«
»Aber mich darfst enttäuschen, gelt? Ich bin dir halt gar nix. Für eine Assistentin läßt sich Ersatz schaffen, für zerstörtes Lebensglück nimmer!« So erregt hatte sie Rudolf Hartenstein noch nicht gesehen.
»Ihre Schwester Ola sehnt sich nach dem Heim, das Sie schon als Kind versprochen haben, ihr zu schaffen«, erinnerte Annemarie leise.
»Da kenn’ ich die Ola besser. Nie würde sie meinem Glück im Wege stehen. Was der Bub dahergeredet, kann der Mann nit unter allen Umständen erfüllen.«
Sie schwiegen alle beide. O Gott, wie das steinerne Ungetüm, auf das sie starrte, sie anfletschte. Als ob es sie mit Haut und Haar verschlingen wollte.
»Wenn ich mich nun aus Verzweiflung hier vom Turm ‘nunterstürz’?« Er hatte seinen Humor wiedergefunden.
»Das werden Sie nicht tun.« Annemarie griff entsetzt nach seinem Jackenzipfel.
»Also schön«, hörte sie Rudolf wieder ganz ruhig sagen. »Dann sollen’s halt Ihren Willen haben. Ich werd’ die Nebelhöhle vergessen, bis – ja, bis Sie selbst mich halt wieder daran erinnern werden.« Es zuckte schon wieder lustig um seine Augen.
»Das wird nie geschehen – niemals!« unterbrach sie ihn mit aller Lebhaftigkeit.
»Warten wir’s halt ab. Und nun, gnäd’ges Fräulein, wenn Sie genug ausgeruht sind, denk’ ich, wir setzen unsere Montblancbesteigung halt fort.« Er schlug einen fremdverbindlichen Ton an.
Annemarie zögerte noch, als könne sie sich nicht von dem Anblick des steinernen Lindwurms trennen.
»›Gnädiges Fräulein‹ ist nicht gerade nötig«, belehrte sie ihn. »Wenn Sie ›Fräulein Annemarie‹ sagen, das genügt.«
»Ich dank’ Ihnen für dieses Zugeständnis.« Er machte eine steife Verbeugung.
»Herr Doktor – noch eins – bitte, seien Sie mir nicht böse«, bat sie mit rührend kindlichen Augen. »Ich leide doch gerade so darunter wie Sie!« Ganz leise kam das letzte hinterdrein.
»Dummes, liebes Mädle!« Sanft strich er ihr über das Blondhaar.
»Neschthäkche – liegscht schon unte?« Irgendwoher, aus den Wolken herab klang’s.
»Wir kommen«, gab Annemarie mit lauter Stimme zurück.
Sie setzten sich wieder in Bewegung.
»Jetzt steigen wir in den siebenten Himmel, Fräulein Annemarie.« Er konnte schon wieder scherzen! Also ging es ihm doch nicht allzu tief. Ach, Annemarie war es durchaus nicht nach Scherz zumute. Alle Qualen der Hölle machte sie bei dem letzten sich immer noch mehr verengenden Anstieg durch. War es die durch das Gespräch verursachte Erregung, war die dünner werdende Luft oder die schmale, stets im Kreise herumführende Treppe dran schuld – es wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie griff nach einem Halt. Rudolf hatte bereits stützend ihren Arm gefaßt.
»Jetzt gehen’s ‘nunter, ohne Widerred’«, verlangte er mit Bestimmtheit.
Nesthäkchens Trotz bäumte sich auf und gab ihr die verlorene Kraft zurück.
»Gleich sind wir oben.« Mit zusammengebissenen Zähnen und Aufbietung aller Energie zwang sie sich, die letzten Stufen zurückzulegen.
Mit lautem Hallo wurden sie droben auf der Aussichtsgalerie empfangen.
»Wir haben halt g’dacht, Neschthäkche, du wärscht wie der Schneider von Ulm durch d’ Luft ‘nuntergefloge als allerneueste Schwabestreich«, zog sie Krabbe auf.
»Hascht auch nit wieder was auschg’fresse?« Neumann betrachtete sie mißtrauisch.
»Na, sehkrank mit h geschrieben, Annemie? Du siehst aus wie weißer Käse. Es ist wohl doch nicht so einfach, als Erdenwurm zu lichten Höhen emporzusteigen?« neckte auch der Bruder.
»Es war Fräulein Annemarie in der Tat beim Aufstieg nit gut zumute, wir wollen sie halt in Ruh’ lassen«, wehrte Rudolf die Neckereien ab, während Annemarie mit blassen Lippen zu lächeln versuchte. »Hier oben wird ihr bald besser werden.«
»Das kommt davon, wenn Frauenzimmer alles mitmachen müssen«, knurrte Hans, warf aber doch besorgte Blicke auf die entfärbte Schwester.
Teilnahmlos bohrte Doktors Nesthäkchen mit den Blicken ein Loch in den Himmel, der noch ebenso weit entfernt schien wie von unten.
Sie wagte es nicht, hinab in die Tiefe zu schauen. Es war ihr ganz gleichgültig, ob die Berge, die man hier oben sah, die Alpen waren oder der Berliner Kreuzberg. Der einzige Gedanke, der sie beherrschte, war: »Wär’ ich doch bloß erst wieder unten!«
»Annemarie, willst du denn nicht einmal Umschau halten? Es ist ja ein überwältigendes Panorama«, redete Hans ihr zu.
»Dazu bischt halt auf den Ulmer Münschter g’stiege, um nix nit zu sehe? Wenn das kein Schwabestreich nit ist, dann weiß i nit«, lachte die Viehmuse sie aus.
Ja, der konnte lachen. Wäre sie doch nur unten bei den Freundinnen geblieben!
Hans schaute durchs Fernglas.
»Annemie«, rief er plötzlich lebhaft, »ich glaube, da