Das »Kind« schutzlos allein in der großen Welt – was für Gefahren lauerten da auf Schritt und Tritt. Tante Albertinchen zog bereits ihr Taschentuch hervor, um ihrem armen Großnichtchen, das von den Eltern unbegreiflicherweise ins sichere Verderben hinausgelassen wurde, einige Tränen zu zollen.
Es kamen aber auch Gratulanten, die Annemaries Jubel durchaus begreiflich fanden und freudig darin einstimmten. Das waren natürlich in erster Linie die beiden Reisegenossinnen Marlene und Ilse. Die blonde Ilse brach ebenfalls, als Annemarie sie ohne weitere Erklärung vor das inhaltsvolle Plakat führte, in begeistertes »Hurra!« aus. Ihre Cousine und Busenfreundin Marlene, die bei weitem ruhigere, aber umschlang Annemarie und sagte aus vollem Herzen: »Au fein!«
»Heute in acht Tagen sind wir schon unterwegs. In Stuttgart sollen wir Station machen, meint mein Vater. In einer Tour sei die Reise zu anstrengend. Kinder, ich freue mich ja diebisch.« Ilse küßte abwechselnd Annemarie und Marlene.
»Mir auch einen!« Klaus steckte seinen Kopf dazwischen.
Er erhielt aber nur einen Nasenstüber. Der Student stand mit sämtlichen Freundinnen der Schwester auf Neckfuß und duzte sich mit ihnen noch aus der Kinderzeit. Annemarie behauptete sogar boshafterweise, daß er in eine nach der andern verschossen gewesen sei, immer abwechselnd. Aber wenn die Reihe um war, kehrte sein leicht entzündbares Studentenherz doch immer wieder zu Ilse Hermann zurück.
Marianne Davis, die ebenfalls mit den drei Mädeln zusammen das Gymnasium besucht hatte, sah mit geteilten Gefühlen die Zukunftsfreude der drei Glücklichen. Ihr rundes Gesicht unter dem Braunhaar blickte wie der Apriltag draußen herein. Halb Regen, halb Sonnenschein. Sie gönnte ja den Freundinnen das gemeinsame Studienjahr in Tübingen – aber freilich! – nur – nur – sie wäre eben auch gar zu gern dabei gewesen. Ihre Eltern hatten nichts davon wissen wollen, Marianne studieren zu lassen. Chemische Laborantin sollte sie werden, dazu brauchte sie nur eine anderthalbjährige fachgemäße Ausbildung. Bis jetzt war Marianne mit diesen Zukunftsplänen auch durchaus einverstanden gewesen. Nur heute, da die andern drei die Schwingen regten zum selbständigen Flug in die Welt hinein, kam sie sich wie ein im Bauer gefangenes Vögelchen vor.
Dabei blieben doch die beiden Kränzchenschwestern Margot Thielen und Vera Burkhard ebenfalls daheim. Margot, die in demselben Hause mit Brauns wohnte, konnte den Jubel der Freundinnen gar nicht begreifen. O Gott, schrecklich wäre es ihr, wenn sie ohne Vater und Mutter allein in eine fremde Stadt müßte. Totgraulen würde sie sich. Wie konnte die Annemarie sich nur so freuen!
Vera Burkhard, Annemaries Intima, hatte die Freundin nur schweigend geküßt. Dann hatte sie sich schnell zum Fenster gewandt, damit Annemarie es nicht merken sollte, daß ihr die bevorstehende Trennung Tränen in die Augen trieb. Annemarie aber brauchte die glänzenden Tropfen an den langen schwarzen Wimpern der Freundin nicht zu sehen. Die empfand es auch ohnedies, daß Vera betrübt war.
»Verachen, ein Jahr ist ja gar nicht lang. Und wir schreiben uns oft. Denke mal, wie sein das sein wird, wenn ein dicker Brief aus Tübingen kommt. Marlene, Ilse und ich, wir schreiben immer abwechselnd, ja? Und du schickst mir photographische Aufnahmen, damit ich sehe, was für Fortschritte du in deiner Kunst machst. Wenn ich wiederkomme, hast du vielleicht schon ein eigenes Atelier.« So versuchte Annemarie die Freundin aufzuheitern.
Veras zartes Gesicht aber sah noch bleicher aus als gewöhnlich. »Ein ganzerr Jahrr ist schrecklich lang fürr mirr«, gab sie mit unterdrücktem Seufzer zurück. Die in Polen Gebürtige stand mit der deutschen Sprache, trotzdem sie schon jahrelang eine deutsche Schule besucht hatte, und trotzdem Annemarie Braun ihr selbst Nachhilfestunden erteilt hatte, immer noch auf Kriegsfuß.
»Wir sind die acht Tage bis zu meiner Abreise noch recht viel zusammen, Verachen. Du mußt dich für meine einstigen deutschen Lektionen revanchieren und mir Unterricht in der Handhabung meines neuen Kodaks von Großmama erteilen. Dann schicke ich dir von jedem Ort, den ich kennenlerne, Aufnahmen.« Annemaries munterem Geplauder konnte Veras niedergedrückte Stimmung nicht standhalten. Den Rest derselben tilgten die lustigen Späße der Brüder und die Berge von Pfannkuchen, die ihr vom Kaffeetisch entgegenlächelten.
Abends bei der Maibowle, die man dem Wonnemonat vorwegnahm, stieß man klingend auf das Studienjahr der drei Getreuen, wie Doktor Braun sie nach dem Frenzenschen Buch titulierte, an. Tante Albertinchen weigerte sich zwar, darauf ihr Glas zu erheben, denn sie fand noch immer, daß es Gott versuchen hieße, Nesthäkchen in die Fremde zu lassen. Margot Thielen, die ausrief: »Kinder, mir könntet ihr Gott weiß was versprechen, daß ich mit sollte. Gottlob, daß ich hier auf der Kunstgewerbeschule bin und nicht von Haus fort muß!« gewann die ganze Sympathie des alten Tantchens. Das war doch noch ein vernünftiges Mädchen, noch gutem, altem Stil, von den modernen Freiheitsgelüsten der heutigen Jugend nicht angekränkelt.
Annemarie aber rief lachend: »Natürlich, Tugendschäfchen muß in seinem Stall bleiben! Da draußen in der Welt könnte der böse Wolf kommen und es fressen.«
»Ja, Tugendschäfchen weidet auf der Heimatflur.«
»Die Welt draußen ist zu klein für solch ein Übermaß von Tugend!« – Auch Marlene und Ilse beteiligten sich an Annemaries Foppereien.
»Tugendschäfchen« – diesen Beinamen hatten die ausgelassenen Backfische dereinst der braven Margot zugelegt, und sie hatte denselben auch stets mit Humor ertragen. Heute aber in Gegenwart von Annemaries Verwandten war Margot dieser Ehrentitel doch ziemlich peinlich. Großmama, welche die Verlegenheit des jungen Mädchens gewahrte, meinte mit liebenswürdigem Takt: »Ich wünschte. Annemariechen, du wärst auch solch ein Tugendschäfchen, dann behielten wir dich hier!«
»Zu meinem nächsten Geburtstag bin ich wieder da, Großmuttchen, schon wegen der Geschenke«, tröstete die Enkelin sie.
»Wer weiß, wer da noch lebt«, lächelte die Großmama.
Auch Tante Albertinchen nickte wehmütig vor sich hin, als gelte es einen Abschied für immer von Doktors Nesthäkchen. Und ihre Pudellöckchen nickten wehmütig mit.
Nesthäkchens neunzehnter Geburtstag, der von einschneidender Bedeutung für ihr Leben geworden war, ging vorüber wie jeder andere Tag. Und die Woche, die nun folgte, ging noch viel schneller dahin. Denn solch eine Reisewoche hat unzählige Beine. Man weiß vor lauter Einkäufen und Vorbereitungen nicht, wo sie geblieben.
Ehe man sich’s versah, kam der Tag heran, wo Doktors Nesthäkchen aus dem heimatlichen Nest fliegen sollte.
2. Kapitel
Eine Reise mit Hindernissen
Ein Sonnentag war’s – hell und strahlend. Aber die junge Reisende blickte unter dem neuen Reisehütchen gar nicht so strahlend wie sonst in die Welt. Die stand in ihrem Mädchenzimmer mit den hübschen weißen Möbeln und schaute auf jedes Stück, die Zeugen ihrer fröhlichen Kinder-und Backfischzeit, als ob sie sich gar nicht davon trennen könnte. Würde die Minna auch ihre süßen kleinen Kakteenpflänzchen, siebenundvierzig waren es jetzt schon an der Zahl, richtig pflegen? Und die Primelchen alle zwischen den Doppelfenstern? Mätzchen würde gewiß suchend das zitronengelbe Köpfchen nach ihr drehen, wenn eine andere Hand ihm Trink-und Badewasser in das Bauer schob. Und Puck? Als ob das kluge Tier wußte, daß Doktors Nesthäkchen heute dem Vaterhause ade sagen wollte, folgte es ihm auf Schritt und Tritt schwanzwedelnd. Annemarie beugte sich zu dem Gefährten ihrer lustigen Kindheitsspiele zärtlich herab und packte ihn bei den langhaarigen Ohren.
»Geliebte Hundetöle, so schwer wird es dir, mich fortzulassen?« Ein glänzender Tropfen aus blauen Mädchenaugen fiel höchst unnötigerweise auf die schwarze Hundeschnauze.
Sie war doch schon mal ein Jahr in der Fremde gewesen. Vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war und nach überstandener Krankheit zur völligen Kräftigung in das Kinderheim an der Nordsee geschickt wurde. Da war ihr die Trennung