»Unverschämt von uns, Hänschen, nicht? Da setzen wir uns hin und studieren ein Festspiel ein, in dem wir den Lehrern tüchtig die Federn ausrupfen, und vorläufig sind sie es doch noch, die uns in ihren Fängen haben. Aber das Abiturientenfest soll doch übermorgen steigen. Wenn wir doch alle mit heilen Gliedern durch wären!«
Auf dem Neuen See trieb Klaus im frühlingsgrün leuchtenden Nachen plätschernd am Ufer hin. »Immer rein, meine Herrschaften,« rief er den Geschwistern zu.
Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen. »Annemie kann rudern – physische Kraftauswendung ist das beste Gegengift bei Geisteskraftverschwendung,« verordnete Klaus.
Wirklich, das Ausarbeiten der Muskeln tat Annemarie wohl. Der See träumte goldiggrün zwischen rieselndem Erlengezweig. Fischlein spielten auf dem klaren Grund. Still zog der kleine Nachen seine Bahn. Das Schreckgespenst des morgigen Tages versank vor diesem Abendfrieden.
Als das Schifflein eine Stunde später am Bootshause anlegte, kam Doktors Nesthäkchen wie aus einer anderen Welt. Was Annemarie nie für möglich gehalten – sie hatte während der ganzen Zeit nicht einmal an das morgige Examen gedacht.
Freilich, zu Hause, als die treulos zurückgelassenen Schulbücher vom Schreibtisch so vorwurfsvoll herüberblickten, kam sie sich recht pflichtvergessen vor. Aber beim Abendessen galt es, möglichst unbefangen zu erscheinen, damit die Eltern keine Lunte riechen sollten. Das Rudern hatte ihr die Wangen gerötet und den Appetit angeregt. Während sie mittags jeder Bissen im Halse gewürgt hatte, schmauste sie jetzt tapfer drauflos. Vater und Mutter waren glücklich, wie gut es ihrem Nesthäkchen mundete.
Eine lange, bange Nacht lag vor ihr. Wäre es nicht richtiger gewesen, sie hätte bis zum Morgengrauen bei den Büchern gesessen, anstatt sich schlaflos in den Kissen zu wälzen? Annemarie hatte nicht viel Zeit, sich dies zu fragen, denn sie vergaß, daß Rudern nicht nur Wangen rötet und die Eßlust steigert, sondern daß die ungewohnte Muskelanstrengung auch rechtschaffen müde macht. Doktors Nesthäkchen, das geglaubt hatte, die ganze Nacht kein Auge schließen zu können, schlief sanft und süß dem bösen Examenstage entgegen.
O wäre sie doch nie aufgewacht! Was ist das für ein Gefühl, wenn man froh und klaräugig des Morgens erwacht, und hat solch eine dunkle unbewußte Empfindung: da war doch irgend etwas Schlimmes, Beklemmendes – was war es nur? Und dann plötzlich ein jäher Schreck wie ein Peitschenhieb – Examenstag! Der gefürchtete Tag ist da! Man kann sich nicht vor ihm verkriechen. Er ist da und jagt einen unbarmherzig hinaus, allen Schrecknissen und Nöten entgegen. Konnte man denn gar nichts tun, um seinen Klauen zu entgehen? O ja, man könnte sich krank melden. Eigentlich war sie’s auch wirklich. Ganz übel war ihr zumute und in den schmerzenden Schläfen pulsierte es wie flüssiges Feuer. Wenn man krank war, brauchte man nicht die Aula zu betreten, die einem in ihrer ungewohnten Leere entgegengähnte wie ein ungeheurer Rachen, bereit, die armen Opfer zu verschlingen. Da brauchte man sich nicht von den Augen des Schulrats durchbohren und von den Blicken des Lehrerkollegiums aufspießen zu lassen. Man blieb ruhig zu Hause in seinem Bett, trank etwas Pfeffermünztee und – »wird dann nachträglich nur um so doller gezwiebelt. Nee, is nich!« Damit beendete Doktors Nesthäkchen seine Überlegungen und sprang aus dem Bett.
Das neue Examenskleid – in kindischer Eitelkeit hatte sie sich damit gefreut. Jetzt empfand sie ein Grauen davor. Wie feierlich sie damit ausschaute. Als ob sie darin zu ihrer eigenen Beerdigung gehen sollte. Schulbücher brauchte sie heute nicht. Aber forträumen mußte sie dieselben, sonst schöpfte Mutti Verdacht. Ehe Mutti aufgestanden war, mußte sie schon über alle Berge sein.
Klaus, sonst gerade kein Frühaufsteher, hatte der »Examensbammel« der Schwester aus den Federn getrieben. »Na, die Hinrichtungsuniform angelegt, Annemie,« versuchte er sie aufzuheitern.
»Ach, Klaus, anders kann dem armen Sünder in seinem letzten Stündlein auch nicht zumute sein. Ich finde, der Galgen ist ein Hochgenuß gegen den Examenstag.« Nesthäkchen sah mit einem Gesicht drein, als ob es wirklich zur Richtstatt gehen sollte.
»Kannst du nicht Papiermanschetten unter deine Ärmel ziehen, Annemie? Darauf lassen sich fein Namen und Daten notieren, die man nicht in den Kopf bekommt.«
»Nee – ich habe doch halbe Ärmel in dem neuen Kleid. Aber eine Papierserviette habe ich mir als Taschentuch zurecht gemacht, wo alles drauf steht, was ich nicht weiß. Wenn mich der Schulrat etwas fragt, muß ich mir immer erst die Nase putzen.« Annemarie mußte schon wieder lachen. Wenn es auch nur Galgenhumor war.
»So ist’s recht, Annemie – immer feste drauflos!« lobte der Bruder. »Und laß dich bloß nicht einschüchtern. Dreist antworten, ob du’s weißt oder nicht. Meistens hören sie gar nicht hin.«
»Na – na –« erlaubte sich Annemarie die pädagogischen Lehren des Studenten anzuzweifeln. »Hans, streiche mir kein Brot – ich kann keinen Bissen runterbringen. Mir wird ganz elend, wenn ich’s nur sehe.«
»Werde bloß kein hysterisches Frauenzimmer, Annemie. Da – hingesetzt und gefrühstückt.« Hans drückte sie auf einen Stuhl und stand daneben Wache, ob sie auch ihren Kakao trank und ihr Brot aß.
Wirklich – es ging. Annemarie hätte es nicht für möglich gehalten. Nun mußte sie aber schleunigst fort, sollte die Mutti sie nicht in dem Examenskleid noch erwischen.
»Mach’ deine Sache gut, Annemie. Je ruhiger du bist, um so klarer wirst du alle Fragen beantworten können. Keine Angst, du hast was gelernt.«
Ja, Hans hatte gut reden. Als ob sich die Kneifzange, die ihr die Brust abpreßte, dadurch lockerte.
Vater erschien am Frühstückstisch. Einen prüfenden Blick warf er auf die Jammermiene seines Nesthäkchens – dann wußte er Bescheid. Aber er tat seiner Lotte den Gefallen, nichts zu merken. Nur die blasse Wange klopfte er ihr aufmunternd.
»Ich wünsch’ dir einen Beinbruch!« Klaus flüsterte es ihr liebevoll im Korridor zu.
»Pfui – Klaus!«
»Das ist der beste Segensspruch fürs Examen. Da kannst du jeden Studenten fragen. Heute abend nehme ich dich mit auf die Kneipe.«
»Erst muß ich heil aus dem Höllenrachen wieder raus sein.«
Hanne steckte den Kopf aus der Küche. »Pst – Annemiechen, da, extrajute Stullen. Mir macht keener nich dumm, ich hab’s jemerkt, daß se dir heute abmurksen tun. Aber bange machen jilt nich. Du hast so ville jelernt wie alle Professorens zusammen. Und, wenn se dir trotzdem rinplumpsen lassen, denn wer’ ick ihn schon die Wahrheit jeijen.«
Jetzt mußte Annemie aber wirklich lachen: die treue Hanne in ihrer Berliner Unverfrorenheit wollte den Professoren die Wahrheit geigen.
Puck gab ihr das Geleit bis auf die Treppe hinaus. Als ob das kluge Tier es merkte, daß seine junge Freundin einen Leidensweg ging.
»Na – denn rin ins Verjnüjen!« Doktors Nesthäkchen schob sich die Treppe hinab.
Unten vor der Haustür standen Vera und Margot, die beiden Getreuen. »Heute wirr wollen lassen gehen dirr nicht allein zu Schule« – »wir wollen dir das Geleit geben.«
»Ihr meint wohl die letzte Ehre.« Annemarie drückte den Freundinnen dankbar die Hand. »Kinder, was habt ihr’s gut, daß ihr jetzt nicht aufs Schafott müßt.«
Helle Frühlingssonne lachte vom Himmel. Graues Regenwetter hätte Annemaries Seelenzustand mehr entsprochen. Die Freundinnen sprachen von beiden Seiten lebhaft auf sie ein, um sie von den bevorstehenden Schrecknissen abzulenken. Annemarie hörte sie kaum. Sie ging wie in einem Traumzustand dahin. Aber es war ein böser Traum, der Alb, der ihr aus der Brust hockte und ihr die Kehle zusammenpreßte.
»Annemie – Vorsicht!« Margot packte sie am Arm.
»Bei