Denn plötzlich war es nicht nur in Veras Kopf »duster«, sondern auch in dem Zimmer. Das elektrische Licht, das sanft von der Decke herabstrahlte, war verlöscht.
»Sicher Kurzschluß« – »irgendwas in der Leitung entzwei« – »Vater bringt es schon wieder in Ordnung,« so erklang es unter ausgelassenem Lachen vom Fußboden, wo die ganze Gesellschaft im Dunkeln hockte.
»Du, Margot, bist du das« – »wer drängelt hier denn so« – »ach, Kinder, ich graule mich tot im Dunkeln« – »au, Klaus kneift.« Die Mädels waren ganz aus dem Häuschen. Sie hielten die ganze Sache für einen Spaß. Doch bald sollte es Ernst werden.
»Ach, wär’ ich nur oben geblieben – wär’ ich nur oben geblieben,« jammerte Tante Albertinchen, und Großmama scherzte: »Kinder, ich finde hier meine Beine nicht wieder heraus.«
»Ein jeder suche die seinigen.« Wieder begann ein übermütiges Greifen und Juchzen, ein Gewirr von Beinen und Händen.
»Ruf’ den Vater, Klaus,« ordnete die Mutter an. Da hörte man bereits Doktor Brauns Stimme von der Tür: »Kinder, was macht ihr denn hier für einen Radau im Finstern? Man kann ja mit seiner Stimme gar nicht durchdringen. Das elektrische Licht scheint in der ganzen Wohnung zu versagen. Ich habe einen Patienten gerade zur Untersuchung vor. Ich kann ihn unmöglich da im Dunkeln liegen lassen. Du mußt für Beleuchtung sorgen, Elsbeth. Irgendwo steht noch eine Karbidlampe aus dem Felde.«
Wieder erfolgte eine Lachsalve der ausgelassenen Backfische, die es zu komisch fanden, daß der Patient im Stockfinstern drin auf dem Untersuchungssofa liegen mußte.
Dazwischen rief Hanne erbost von der Küche herein: »Jnädige Frau, ich sitze mittenmang in’n Heringssalat – is das jetzt ’ne Zucht!« Das kleine Hausmädchen meinte: »Nu geht die Welt unter – mit Düsternis soll’s immer anfangen.« Und Tante Albertinchen lamentierte: »Wenn ich doch bloß erst wieder auf meinem Stuhl säße!« Die Mädels aber quiekten und johlten. Ein unsagbares Durcheinander.
Frau Doktor Braun und ihre Mutter versuchten mit aller Energie das Wirrwarr zu durchdringen.
»Ruhe, Mädels, jetzt seid mal still und helft mir. Hanne, lassen Sie Ihren Heringssalat und stecken Sie die Küchenlampe an, da muß noch Petroleum drauf sein. Heulen Sie nicht, Minna, so schnell geht die Welt nicht unter. Holen Sie lieber die Karbidlampe.« Ruhig und sachlich gab Frau Doktor Braun ihre Anordnungen.
»Ich kann ja nichts sehen, ich finde ja die Karbidlampe nicht, wo es so stockduster is,« heulte das Hausmädchen.
Da blitzte plötzlich Licht in der schwarzen Finsternis auf. Zwar nur ein winziges, aber es wurde doch immerhin ein wenig hell.
»Und es ward Licht!« schmetterte der Mädchenchor aus der Haydenschen Schöpfung.
Klaus war auf den guten Gedanken gekommen, seine Taschenlaterne herbeizuholen.
Wie ein Glühwürmchen flog er jetzt von Zimmer zu Zimmer, leuchtete mit seinem Zitterschein Vaters Patient, daß er wieder in seine Kleider kam, der schimpfenden Hanne, daß sie die Küchenlampe anzünden konnte, dem heulenden Hausmädchen und der jammernden Tante Albertinchen, damit letztere wieder festen Fuß auf der Erdoberfläche fassen konnte.
Nicht lange dauerte es, da war alles wieder in schönster Ordnung. In Vaters Zimmer verbreitete die Karbidlampe zwar keine Helligkeit, aber dafür einen um so durchdringenderen Duft. Im Wohnzimmer blakte und rauchte die altmodische Stehlampe, die längst ausrangiert war und deren sich Großmama plötzlich wieder in der Not erinnert hatte, wie ein Schornstein. Draußen in der Küche aber räsonierte Hanne: »Bei die feenhafte Beleuchtung kann kein Mensch nich’n Heringssalat jarnieren.« Dabei brannte ihre Küchenlampe noch am besten.
Allmählich beruhigten sich auch die Gemüter, die Fluten der Erregung ebbten ab. Doktor Braun bastelte an der elektrischen Hauptleitung herum unter Assistenz seines Sohnes Klaus. Die jungen Mädchen wollten eben trotz des mangelhaften Lichtes ein neues Gesellschaftsspiel vornehmen, da wurden sie wieder jäh aus ihrem seelischen Gleichmaß herausgeschleudert.
»Das Elektrische versagt im janzen Haus, allenthalben sitzen se im Dustern – se sollen streiken,« verkündete Hanne mit lauter Stimme.
»Also doch! Dann hat meine Arbeit hier keinen Zweck, wenn der Strom von den Elektrizitätswerken fehlt.« Doktor Braun eilte ans Fenster. Die ganze Gesellschaft folgte.
»Ich grraulen mirr.« Vera umfaßte Annemarie.
Pechschwarz lag die Straße da. Keine Bogenlampe sandte ihren sanft milchigen Schein wie sonst herab. Keine Gaslaterne brannte. Keine Lichtflut ergoß sich aus den Geschäften. Die Fensteraugen der Häuser starrten blind und tot in das undurchdringliche Schwarz. Nur hier und da blinzelt eine flackernde Kerze aus einer Wohnung trübselig in die Nacht hinaus.
»Die Gaswerke scheinen auch zu streiken – – –«
»Allemal,« schrie Hanne wütend dazwischen – »möchte wissen, wo ich heute das Teewasser machen soll.«
»Hu, ist das ungemütlich.« Ilse schmiegte sich an Marlene.
»Gut, daß ich hier im Hause wohne und nicht auf die dunkle Straße zu gehen brauche, in solcher Finsternis kann man überfallen und ausgeraubt werden,« frohlockte Margot menschenfreundlich.
Den anderen wurde bei der Aussicht etwas unbehaglich zumute. Marlene zeigte sich wieder als Verständigste.
»Ich glaube, es ist besser, wir fahren bald nach Hause. Unsere Eltern sorgen sich am Ende,« schlug sie vor, trotzdem es ihr schwer wurde, Annemaries Geburtstagsfeier frühzeitig zu verlassen.
»Fahren – womit denn? Es geht ja keine Elektrische, wenn’s keinen Strom gibt.« Klaus brachte erst den Frieden.
Himmel – was nun? In der Tat, keine elektrische Bahn bimmelte die Straße entlang. Es war, als ob die sonst so lärmende Großstadt plötzlich ausgestorben wäre. Unwillkürlich legte sich einem diese ungewohnte Stille beklemmend auf die Brust.
»Ja, das hilft nichts, nach Hause müssen wir. Dann müssen wir mit der Stadtbahn fahren, die geht,« erklärte Marlene.
»Aber da müssen wir noch solch Ende vom Bahnhof laufen, und wenn die Straßen so pechrabenschwarz sind –« Ilse machte ängstliche Augen in Erinnerung an Margots Raubüberfälle.
»Nein, Kinder, ich lasse euch keinesfalls in der Dunkelheit allein gehen,« erhob Frau Doktor zu Ilses Erleichterung Einspruch. »Telephoniert nach Haus, daß man euch um neun Uhr vom Bahnhof Alexanderplatz abholt. Dann könnt ihr noch mit uns Abendbrot essen.«
»Au ja – fein!« Die beiden Cousinen eilten ans Telephon.
Inzwischen regte sich Tante Albertinchen so sehr auf, daß ihre Pudellöckchen überhaupt nicht mehr zur Ruhe kamen.
»Ach Gott – du mein Gott, was mache ich denn nun bloß? Ich fahre doch sonst mit der Elektrischen von Tür zu Tür. Stadtbahn kommt für mich nicht in Betracht.«
»Fahre doch Hochbahn, Tante Albertinchen,« schlug das Geburtstagskind vor.
»Idiotenhäuptling! Die Hochbahn wird doch auch durch Elektrizität getrieben.« Trotz des Geburtstages hielt Klaus mit seiner brüderlichen Liebkosung nicht zurück.
»Dann bleibst du eben bei uns über Nacht!« Doktors Nesthäkchen war niemals um einen Ausweg verlegen.
Aber auch dagegen sträubten sich Tante Albertinchens Pudellöckchen energisch. »Wo denkst du hin, Kind, wie werde ich euch die Wirtschaft machen. Und ich muß auch meine gewohnte Ordnung haben.«
»Na, darüber läßt sich ja noch reden,« mischte sich Großmama hinein. »Bei mir kannst du gut übernachten, Albertine. Es steht immer ein Fremdenbett bei mir bereit, weil alle Verwandten von außerhalb von jeher bei mir absteigen.«
»Ja, und Großmama wohnt nahe, da bringt euch Klaus nachher nach Hause,« pflichtete Annemarie bei.
Doch auch davon wollte Tante Albertinchen