Zum Glück überhob der herandampfende Zug Marianne einer Antwort. Zu Hause hatte sie Mutti gebeten und gequält, ihr zartfarbenes Sonntagskleid anziehen zu dürfen. Und jetzt, wo die andern in Rock und Bluse oder Bauernkleid erschienen, schämte sie sich ihres Staates.
Der Zug war trotz der frühen Stunde überfüllt. Aber »was ’n richtiger Berliner is, da gehen fünf Mandeln aufs Schock,« meinte ein dicker Herr und pflanzte sich in seiner ganzen Breite an dem offenen Fenster auf, trotzdem das Abteil schon knüppeldick voll war.
»Vera, wo bist du denn« – – –
»Hierr – ich finde keine Platz mehrr,« erklang es jämmerlich von draußen.
»Aber Mädel, dich setzen wir schlimmstenfalls ins Gepäcknetz« – »einen Salonwagen kannst du nicht für dich allein beanspruchen« – »immer rin in die gute Stube.« Verschiedene Hände streckten sich aus, um der vor der Überfüllung zurückscheuenden Vera hereinzuhelfen.
»Da sieht man, daß du kein Berliner Pflänzchen bist, Vera.« Annemarie zog die Wiedergefundene hilfsbereit zu sich, trotzdem sie selbst mit einem Bein in der Luft hing.
»Richter, ist unsere Herde vollzählig? – Na, dann kann’s losgehen, Herr Stationsvorsteher.« War doch ein mächtiger Frechdachs, der Klaus, das ganze Kränzchen so vor allen Leuten bloßzustellen. Leider reichte Annemaries Arm nicht bis zu ihm, sonst hätte er wohl einen Denkzettel erhalten.
Schwarze Kiefernwälder mit lichtem Maiwuchs, taufrische Wiesen, sonntäglich saubere Häuschen überholte der Zug in ratternder Geschwindigkeit. Annemarie erblickte sie als winzigen Ausschnitt in dem Halbrund, das der Arm des am Fenster postierten dicken Herrn frei ließ. Man konnte kaum atmen, so eingekeilt war man. Die Mädel lehnten sich gegenseitig aneinander, um nicht umzufallen. Bei jedem Ruck fielen sie lachend aufeinander.
Es war wundervoll.
Über ihre Beine hatte Annemarie das Verfügungsrecht verloren, das eine schwebte, das andere wurde ihr beinahe abgedrückt. Aber die Hände gehörten ihr noch. Trotz der Enge hatte sie plötzlich ihre Zupfgeige beim Wickel und blim – blim – begann sie: »Das Wandern ist des Müllers Lust.« Sofort fiel der ganze Chor ein, nicht nur die Kränzchenschwestern, sondern sämtliche Insassen, sogar die der Nachbarabteile. So kam man singend an dem von blauen Havelarmen umfangenen Potsdam mit seinen historischen Türmen und Kuppeln vorüber nach Caputh.
Draußen suchte man erst wieder seine Knochen zusammen.
»Ach, Kinder, atmet doch bloß die bezaubernde Luft.«
»Die Baumblüte – dort schimmert alles weiß und rosa! Ach, ist das schön – ist das schön!« Annemarie wies begeistert aus das schneeige Blütenmeer, das in sanften Wellenlinien die Havelufer besäumte.
Marlene stand still und ganz versunken in dieses Frühlingswunder. Ilse schielte betrübt auf ihr rechtes Schuhchen. Das hatte in der Enge den ersten schwarzen Tritt bekommen.
»Es wird noch viel schöner – kommt nur,« drängte Klaus, der weniger Sinn für Naturschönheiten als Unternehmungsgeist hatte. »Die Hauptsache bleibt das Hamstern. Die anderen Berliner dürfen uns nicht zuvorkommen.«
»Es sind ja fast alle nach Werder gefahren.«
Wirklich war es hier verhältnismäßig leer. In den Bauernhäusern regte es sich schon trotz der frühen Stunde. Hier sah ein hemdsärmlicher Alter, das Pfeifchen im Mundwinkel, aus der Haustür prüfend in den klaren Sonntagshimmel. Dort fütterte ein junges Mädchen die sie umgackernden Hühner.
»Pst, Kinder – hier muß es Eier geben, ob ich mal frage?« Marianne öffnete bereits den seidenen Pompadour ihrer Mutter. Zwei Mandeln mußte sie mindestens mitbringen.
Aber Richter wehrte ab.
»Nein – es ist noch zu früh. Caputh liegt zu sehr an der großen Heerstraße. Wir müssen in den abseits gelegenen Dörfern hamstern, wo die Berliner weniger hinkommen.« Er schien sich darauf zu verstehen.
So zog man weiter. Die Villen schliefen fast noch alle. Ab und zu hatte eine schon die grünen Fensterläden aufgeschlagen, und ein seifenschaumiges Antlitz vor dem Rasierspiegel ward sichtbar. Dort unter dem weißen Flieder trank man sogar schon Kaffee.
»Eier, Butter, Honig und Wurst – die haben’s gut,« meldete Marianne, durch die Büsche ein wenig neidisch den reichbesetzten Frühstückstisch musternd.
»Kriegen wir auch alles noch,« tröstete Annemarie.
»Nur immer vorwärts!« – Klaus trieb seine Herde an.
Zarte weiße Obstblüten rieselten auf blondes und braunes Haar. Durch echt märkischen Sand stampfend, zog die blühende Jugend unter blühenden Kirschbäumen dahin.
»Wenn sie doch reif wären!« Ilse schien auch mehr Sinn fürs Reale zu haben, als für die Schönheit der Natur.
»Wo wirr werrden stücken frrüh?« erkundigte sich Vera, die keine Zeit mehr gehabt hatte, ihren Morgenkaffee zu trinken.
»Wir werden stücken früh in dem ersten Bauernhaus,« zog Margot Vera auf. »Da können sie uns gleich frische Milch zu unsern Broten geben.«
»Au ja –«
»Wenn sie’s tun.« Das war Marlene, die als einzige Zweifel erhob.
»Natürlich tun sie’s, wir müssen nur schön bitten«, rief Annemarie.
»Na, dann kannst du ja gleich den Anfang machen. Dort drüben ist ein Gehöft, wo sie Kühe haben.« Richter wies auf ein abseits gelegenes Haus.
»Laß dich aber nicht ’rausschmeißen«, rief Klaus der Schwester vorsorglich nach.
»I wo! Ich bringe euch eine große Kanne Milch mit, vielleicht auch Butter und Eier.« Annemarie setzte sich voller Hoffnungen in Bewegung.
»Ich gehen mit dich.« Vera eilte hinter ihr her. Das war recht angenehm. Denn vor dem Hause lag ein großer schwarzer Köter und blinzelte den beiden mißtrauisch entgegen.
Eine Frau von ziemlich verwahrlostem Aussehen klapperte auf Holzpantinen im Stall trotz des Sonntags herum.
»Guten Morgen«, rief Annemaries helle Stimme zur Tür hinein.
Keine Antwort. Nur Poltern mit den Melkgefäßen und sattes, behagliches Brummen der Kühe. Da kamen sie ja gerade zurecht.
Die Schwanzquasten der Kühe, die sich im Kreise bewegten, waren zwar etwas störend, aber Annemarie war nicht umsonst schon einige Male auf dem schlesischen Gut bei Onkel Heinrich gewesen. Trotz Veras energischen Zurückzupfens wagte sie sich weiter.
Nun mußte die Frau sie unbedingt sehen. »Guten Morgen«, sagte Annemarie noch einmal, und ihre blauen Augen strahlten wie der leibhaftige Sonntagmorgen.
Die Frau blinzelte mißtrauisch herüber, ähnlich wie der Köter vor der Haustür.
»Ach bitte, würden Sie nicht so gut sein und uns etwas Milch geben«, bat Annemarie mit all ihrer Liebenswürdigkeit.
»Nee,« brummte es als Antwort. Vera zupfte energischer. Es war ihr unheimlich in dem halbdunklen Stall mit der brummenden Frau und ihren brummenden Vierfüßlern.
So schnell ließ sich Doktors Nesthäkchen nicht abspeisen.
»Ach, Sie haben doch so viel.« Das junge Mädchen wies auf die vollen Milchkübel.
»Jawoll, müssen wir alles abjeben. Nich mal für die Ferkel haben wir jenug.« Dabei sah die Frau das junge Mädchen so empört an, als ob dasselbe die Schuld an dieser Verordnung trüge!
»Wir haben solchen Durst.« Noch einmal versuchte Annemarie ihr Heil.
»Denn bleibt jefälligst zu Hause und treibt euch nicht auf der Landstraße rum. Diese verfluchtigen Wandervögel, die einen alle Sonntag das Haus einrennen! Wollt ihr nich vielleicht auch Eier, Speck und