Doktor Braun, der von dem Besuch bei einem Patienten in der Nachbarschaft zurückkehrte, sah belustigt die vergeblichen Anstrengungen der beiden.
»Ja, Kinder, da werdet ihr euch wohl gedulden müssen, bis der Streik der Elektrizitätswerke zu Ende ist. Das Telephon streikt ebenfalls.«
Darauf waren die Schlauköpfchen noch nicht gekommen.
»Was machen wir denn jetzt bloß, Marlenchen?« Ilse weinte fast vor Ausregung. »Unsere Eltern werden sich mächtig um uns sorgen.«
Marlene nickte stumm. Sie wußte keinen Ausweg.
»Aber, Kinder, laßt euch doch deshalb bloß keine grauen Haare wachsen. Ihr bleibt einfach alle bei uns. Vera kann bei mir schlafen, Marianne im Eßzimmer, Marlene hier im Wohnzimmer und Ilse im Sprechzimmer. Da muß sie allerdings morgens früh heraus – fein geht’s!« Annemarie schaffte sogleich Rat.
»Ein paar können mit zu mir hinüberkommen,« meldete sich auch Margot.
»Na also! Dann wollen wir doch ruhig weiterspielen. Schlagt was vor!« Annemaries leichtes Temperament war trotz Petroleumdunst und Dunkelheit wieder obenauf.
»Aber Annemie, wo denkst du hin! Wir können doch nicht einfach fortbleiben und unsere Eltern im Ungewissen lassen, wo wir sind. Wir müssen unbedingt nach Haus.« Marlene griff bereits nach ihrem Matrosenhut.
»Ihr werdet sicher abgeholt werden, bleibt doch noch.« Annemarie machte ein unglückliches Gesicht, daß die Geburtstagsfeier so schnell abgebrochen werden sollte.
»Bei uns ist Wäsche. Das Mädchen kann heute abend nicht mehr den weiten Weg nach Charlottenburg herauskommen.« Trotzdem Ilse Hermann brennend gern geblieben wäre, zog sie ebenfalls, wenn auch zögernd, den Mantel an.
»Ja, Kinderchen, was machen wir da bloß?« Frau Doktor sah sorgenvoll drein.
»Ich begleite Marlene und Ilse bis nach Haus.« Klaus konnte wirklich manchmal nett sein. »Und Marianne kann ich auch gleich dabei abladen, das ist kein großer Umweg.«
Marianne fand diese Hilfsbereitschaft von Klaus nun weniger nett. Besonders im Hinblick auf den Heringssalat zum Abendbrot.
»Ach, ich werde bestimmt abgeholt. Ich wohne ja nicht so weit,« versicherte sie.
»Sag’ mal, Ernst, gehen denn keine ärztlichen Gespräche durch?« wandte sich Frau Doktor Braun an ihren Mann. »Dann könnte man Marlenes oder Ilses Eltern vielleicht verblümt davon benachrichtigen, daß sie an der Stadtbahn erwartet werden.« Der Mutter war es unbehaglich, selbst den unternehmungslustigen Primaner in die Finsternis hinauszulassen.
»Man kann’s versuchen. Ärztliche Gespräche müssen erledigt werden, wenn auch der Privatverkehr gesperrt ist.«
»Aber das Amt hat sich doch gar nicht gemeldet.« Marlene stand wie auf Kohlen.
»Vielleicht hat es sanft geschlafen.« Wirklich, als Doktor Braun den Hörer abnahm, meldete sich nach einem Weilchen Amt Steinplatz.
»Ärztliches Gespräch nach Alexander,« verlangte er. Und als er mit dem Anwaltsbureau von Marlenes Vater verbunden war, teilte er kurz mit: »Hier Doktor Braun. Bestellen Sie, bitte, daß die Patientin Marlene Ulrich, die augenblicklich in meiner Sprechstunde ist, um 9 Uhr vom Bahnhof Alexanderplatz abgeholt werden soll.«
Die Patientin Marlene Ulrich lachte wie ein Kobold über das gelungene Telephongespräch. Auch Ilse, die nur ein paar Häuser von der Cousine entfernt wohnte, strahlte, daß sie den Mantel wieder ausziehen konnte. Am meisten aber freute sich Marianne, daß sie von Klaus nicht gleich mit abgeladen wurde.
»Meine Onkel und Tante werrden kommen, mirr zu holen,« meinte Vera Burkhard ganz unbesorgt.
»Hoffentlich nicht, daß du wenigstens bei mir schlafen kannst.« Am liebsten hätte Annemarie dem ganzen Kränzchen Obdach gewährt.
Man ging wieder daran, das unterbrochene Spiel aufzunehmen. Aber die rechte Ruhe fehlte dazu. Bald lief die eine ans Fenster, ob schon wieder Licht brannte oder Bahnen gingen, bald die andere zur Eingangstür mit der Behauptung, es hätte geklopft. Denn auch die elektrische Klingel versagte.
Das Abendbrot bei der »Tranfunzel« wurde noch höchst fidel. Was kümmerte die glückliche Jugend die ernste Streiklage und ihre einschneidenden Folgen auf das wirtschaftliche Leben, welche die Erwachsenen still und besorgt machte. Das lachte, schwatzte und scherzte, ließ sich trotz der »feenhaften Beleuchtung« Hannes schön mit eingelegten Früchten garnierten Heringssalat munden und aß sich in der Dunkelheit ausgelassen gegenseitig die mitgebrachten Butterbrote fort. Denn für soviel hungrige Mäuler langte Doktor Brauns Brot nicht. Die kamen bei Klaus’ und Nesthäkchens gesundem Appetit sowieso kaum mit ihrer Wochenration aus.
Die einzige, der es nicht so recht schmeckte, war Tante Albertinchen. Die konnte es nicht verwinden, daß sie heute nicht ihre gewohnte Ordnung haben sollte, und ohne ihre eigene Nachtjacke und ohne Lockenwickler zu Bette gehen mußte. »Wie können die jungen Mädchen nur so sorglos sein wegen ihres Heimkommens,« meinte sie kopfschüttelnd und ihre Pudellöckchen bekräftigten ihre Ansicht.
»Das Telephon – das Telephon geht!« Die Mädel schrien, als sei dies das größte Weltwunder. Dabei stand bei Brauns das Telephon für gewöhnlich nicht still.
»Ihr braucht euch nicht aufzuregen, Kinder – irgendein Patient – – –«
Es war aber der Vater von Marianne, ein Kollege von Doktor Braun, der ebenso schlau war wie dieser. Er teilte ärztlich mit, die Patientin würde abgeholt werden.
Keiner war glücklicher als Marianne. Aus Freude lud sie sich noch mal einen niedlichen Berg Heringssalat auf.
Die Jugend behielt recht mit ihrer Sorglosigkeit trotz Tante Albertinchens Kopfschütteln. Jede von ihnen kam sicher nach Hause. Vera wurde sogar von Onkel und Tante, die mit der Familie Braun befreundet waren, persönlich abgeholt.
»Schade, Lotte, daß dein Geburtstag durch die dumme Streikgeschichte so beeinträchtigt wurde,« meinte die Mutter beim Gutenachtsagen, als ihr Nesthäkchen sich nochmals für alles bedankte.
»Beeinträchtigt – aber das war doch gerade fein, Muttchen. Das war doch mal was Besonderes. Gesellschaftsspiele und Torte gibt’s bei jedem Geburtstag. Aber im Stockdunkeln haben wir noch nirgends gesessen. So haben wir noch nirgends gelacht wie heute.«
Glückliche Backfischzeit!
6. Kapitel
Hamsterfahrt
Kirschblüte in Werder! Fett gedruckt stand es in allen Zeitungen, an jeder Litfaßsäule. Doktors Nesthäkchen träumte Tag und Nacht davon.
Aber die Eltern waren durchaus nicht für solch ein zweifelhaftes Vergnügen zu haben.
»Fällt mir gar nicht ein, Lotte, mich in den überfüllten Zügen zu Apfelmus zerquetschen zu lassen,« lachte der Vater sie aus. »Ich laufe in der Woche genug herum. Wenn ich mich mit meiner Zigarre ruhig auf den Balkon setze, ist das mein schönstes Sonntagsvergnügen.«
»Aber meins nicht – – –«
»Will ich gern glauben. Also sagen wir statt mit der Zigarre mit einem Stück Schokolade.«
Nicht mal die zog.
»Sechzehn Jahre bin ich nun alt und habe noch nie die Baumblüte zu sehen bekommen – es ist eine Schande,« beschwerte sich Nesthäkchen.
»Du brauchst doch bloß in den Hof hinunterzusehen,« zog sie Klaus auf. Dort lugte über die grauschwarze Mauer ein winziger zartrosa