»Wollen wirr laufen nicht lieberr forrt?« Vera zog sie ängstlich rückwärts.
»Hasenfuß!« Trotzdem auch Doktors Nesthäkchen durchaus nicht zum besten zumute war, öffnete sie jetzt erst recht keck die gefährliche Tür.
Der Herr Direktor saß an seinem Arbeitstisch und blickte über die Brille hinweg auf die an der Tür bescheiden Stehenbleibenden.
»Ei, sieh da, drei Grazien. Was bringen Sie Schönes?« fragte er wohlwollend.
Den gütigen alten Augen gegenüber ging Annemarie ihre empörte Anklage nicht so recht über die Lippen. Wollte sie nicht Fräulein Neubert verpetzen? Pfui! Wenn sie es auch noch so beschönigte, im Grunde genommen blieb es doch ganz gemeines Klatschen.
»Nun?« Der Herr Direktor wartete immer noch auf Antwort.
Es half nichts, sie mußte reden.
»Fräulein Neubert hat mir und meinen Freundinnen ungerecht einen Tadel gegeben.« – – – Flammendrot wurde Annemarie. Zum erstenmal in ihrem Leben petzte sie.
»Ungerecht?« – Das freundliche Lächeln des Herrn Direktors schwand.
»Ja, wir sind beim Schneeschippen von einem Konditor, vor dessen Tür wir geschaufelt haben, mit einer Tasse Schokolade für unsere Arbeit belohnt worden. Und dafür hat uns Fräulein Neubert unter Tadel geschrieben,« sprudelte sie heraus, wieder ganz aufsässige Entrüstung.
»Hm – scheint mir nicht ganz wahrscheinlich, wird wohl noch anders zusammenhängen. Und was wollen Sie und die beiden andern nun bei mir?« Durchdringend blickten die Augen über die Brille hinweg.
Annemarie drehte an ihren Fingern. Petzen – das Wort dröhnte ihr in den Ohren, trotzdem tiefe Stille in dem kleinen Raum herrschte. Aber wer A gesagt hat, muß auch B sagen.
»Fräulein Neubert hat mich ferner vom Unterricht ausgeschlossen, und als ich mich trotzdem beteiligte, hat sie mich – da hat sie mich aus der Klasse gewiesen und mir einen zweiten Tadel eingeschrieben.« Ganz leise kam es diesmal über die roten Lippen. Annemarie schämte sich grenzenlos.
»Das sind ja recht nette Sachen, die ich da zu hören bekomme. Diese unerfreulichen Dinge, die in der Sekunda nicht mehr vorkommen dürften, erfahre ich noch früh genug in der Konferenz. Was wollen Sie also hier?« Nichts Wohlwollendes hatten die sonst gütig blickenden Augen mehr. Kurz und streng klang die Frage.
Annemaries sich verkriechender Mut richtete sich wieder trotzig empor.
»Beschweren wollen wir uns über die ungerechte Behandlung. Wir lassen uns so was nicht mehr gefallen. Wir Schülerinnen haben auch unsere Rechte. Wir haben einen Schülerrat gebildet und erheben Einspruch gegen jede Ungerechtigkeit.« Annemarie wußte selbst nicht, woher sie den Mut zu diesen energischen Worten nahm, während Vera sie ängstlich zupfte, doch bloß zu schweigen.
Auf der Stirn des gestrengen Oberhauptes hatten sich unheilverkündend gewitterschwere Wolken geballt. Jetzt brach das Donnerwetter herein.
»Also Revolution – Revolution in meiner Schule! Das ist ja nett! Schülerrat – ja, schämen Sie sich denn gar nicht, mir altem Mann mit derartig aufsässigen Ideen zu kommen? Haben wir noch nicht genug an der Revolution draußen im Lande? Und wissen Sie, törichtes Kind, denn überhaupt, was solche Schülerräte bezwecken?« So ärgerlich hatte Annemarie den Herrn Direktor noch nie gesehen.
»Gerechtigkeit,« stieß sie mit dem letzten Rest ihres arg zusammengeschmolzenen Selbstbewußtseins hervor. »Die Schülerräte sollen bei Ungerechtigkeiten der Lehrer zu Gericht sitzen und – – –«
»So, also über eure Lehrer wollt ihr aburteilen, ihr jungen Grünschnäbel, ihr! Vielleicht auch über die Eltern zu Hause, falls euch an ihrer Erziehung irgend etwas nicht paßt? Da seid ihr ja mal wieder recht gründlich auf dem Holzweg in eurer Neunmalklugheit. Schülerräte sollen zu dem Zweck gebildet werden, um das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern zu bessern, zu einem freundschaftlicheren zu gestalten. Die Schülerräte sollen die Kameraden zum Guten beeinflussen, damit die Lehrer gar nicht erst notwendig haben, zu strafen. Sagen Sie mal, Annemarie Braun, sind Sie denn davon überzeugt, daß Ihr heutiges Verhalten, Fräulein Neubert gegenüber, vor einem derartigen Schülerrat hätte bestehen können?«
Annemarie stand stumm. Es kam nicht oft vor, daß sie eine Antwort schuldig blieb. Nein, höflich und bescheiden hatte sie sich heute ganz gewiß nicht benommen.
»Sie sprechen sich selbst durch Ihr Schweigen das Urteil. Und nun gehen Sie und schämen Sie sich Ihrer kindischen Unvernunft.« Eine kurze Handbewegung scheuchte das Kleeblatt im Nu aus dem Zimmer.
Ja, Doktors Nesthäkchen schämte sich grenzenlos. So sehr, daß es all den neugierigen Fragen der in der Klasse auf sie Harrenden kaum standzuhalten vermochte. »Der Direktor ist nicht für Schülerräte – er ist schon zu alt für moderne Bestrebungen.« Das war alles, was man aus Annemarie herausbekam.
Nie mehr in ihrem ganzen Leben gründete sie wieder irgendeinen Verein!
4. Kapitel
Versetzungszensuren
Der Zensurentag für die Osterversetzung war in diesem Jahre auf den 9. April festgesetzt. O Tücke des Schicksals! Doktors Nesthäkchen haderte mit den höheren Mächten. Denn der 9. April war von jeher der wichtigste Tag in ihrem Leben – ihr Geburtstag. Und gerade an diesem strahlend hell aus der einförmigen Jahreskette herausblitzenden Tag sollte das Urteil ihr gesprochen werden. Denn zum erstenmal in ihrem Leben hatte Annemarie vor den Zensuren einen sogenannten »Bammel«. Behaupteten doch die Mädel allen Ernstes, daß man mit einem Doppeltadel nicht in die Obersekunda versetzt werden könne.
Himmel, die Schande! Was würde Großmama bloß sagen, wenn sie zum Geburtstag glückwünschen wollte und Annemarie, ihr Liebling, war sitzengeblieben! Ob sie das Uhrenarmband, das sie sich sehnlichst wünschte, dann wohl noch bekam? Ach und die Eltern! Der Vater, der selbst so unermüdlich von morgens früh bis spät in die Nacht in seiner Praxis tätig war, pflegte sie immer beim Schopf zu nehmen: »Fleißig, Lotte, fleißig studiert, daß du bald meine Assistentin werden kannst!« Denn das war Annemaries Ziel, auf das sie lossteuerte. In Vaters Klinik mal seine rechte Hand zu werden. Und ihr Muttchen mochte sie noch viel weniger betrüben. Seit Frau Doktor Brauns Rückkehr aus England, wo sie das erste Kriegsjahr von ihrer Familie getrennt verlebte, war ihre Gesundheit nicht mehr so widerstandsfähig wie früher. Ihr Nesthäkchen umsorgte sie jetzt voller Zärtlichkeit, hatte es sich doch grenzenlos nach der fernen Mutter gebangt. Und da sollte sie nun den Eltern den Kummer zufügen, in der Untersekunda kleben zu bleiben? Klaus würde noch am ehesten Verständnis für sie haben, war er doch selbst schon mal den Krebsgang in der Schule gegangen. Aber vor dem großen Bruder Hans, der in Freiburg Nationalökonomie studierte, müßte sie sich mächtig schämen. Der war immer Primus durch alle Klassen gewesen und zog die jüngere Schwester in allen Briefen mit ihrer Gymnasiastengelehrsamkeit auf.
Ja, es war schon eine Tränenwelt, in der man gerade am 9. April die Osterzensuren verteilte!
Doktors Nesthäkchen hielt es für geraten, am Vorabend dieses ereignisschweren Tages die Eltern für alle Fälle schonend vorzubereiten.
»Die Versetzung nach Obersekunda soll fast noch schwerer sein als das Abiturientenexamen,« begann sie beim Abendbrot möglichst unbefangen.
»I wo!« machte Klaus wegwerfend. »Bei uns Jungs vielleicht, weil wir das Einjährige damit kriegen. Aber bei euch Mädels ist das wie jede andere Versetzung.«
»Ei – ei, unser Nesthäkchen hat doch nicht etwa eine wenig erfreuliche Geburtstagsüberraschung für uns in petto?« Der Vater nahm sein Mädel aufs Korn.
»Nee – nee – ich mein’ ja man bloß so. Man muß nie zu siegesgewiß sein,« beeilte