»Es ist nicht nötig, mein liebes Kind, daß man groß ist und Großes leistet in dieser gewaltigen Zeit der Erhebung Deutschlands. Auch die Kinder können im kleinen Opfer bringen und ihr Scherflein dazu steuern. Nichts ist zu gering, auch das winzigste Steinchen, das man zu dem großen Bau der Kriegsarbeit beiträgt, ist von Wert.« Sprechend wanderte Großmamas Blick zu dem zu Boden geschleuderten Pulswärmer, mit dem sich Puck sachverständig beschäftigte.
Annemarie bückte sich schnell und entriß ihrem vierfüßigen Freund das verhedderte Strickzeug.
»Wenn ich doch wenigstens ein Junge wäre, dann könnte ich ganz anders helfen als hier bloß bei der dummen Strickerei. Wie gut hat’s Hans als Pfadfinder! Der kann den ganzen Tag auf dem Bahnhof sein und die durchziehenden Soldaten verpflegen. Das ist tausendmal lustiger, als sich mit den mopsigen Pulswärmern quälen.« Vergeblich bemühte sich die Kleine, wieder Ordnung in die von Puck herabgezerrten Maschen zu bringen.
Großmama mußte sich erbarmen.
»Ich glaube nicht, daß der Hans gar so leichte Arbeit bei seinem Bahnhofsdienst in diesen heißen Augusttagen hat. Müde und erhitzt genug kommt er des Abends heim. Und was das Lustige anbelangt, Herzchen, gerade etwas, was uns schwer fällt, hat doppelten Wert. Unser eigenes kleines Ich und all unsere persönlichen Wünsche müssen wir jetzt hintenan setzen, nur an das Wohl unseres Vaterlandes und seiner braven Verteidiger dürfen wir denken. Sonst ist es kein richtiges Opfer.«
Großmama seufzte unhörbar. Ja, sie selbst hatte all ihr Wünschen in diesen ersten schweren Augusttagen unterdrücken gelernt. Beide Schwiegersöhne hatte sie ins Feld ziehen lassen müssen. Den einen, der Landwirt in Schlesien war, als Reserveoffizier gen Osten und Annemaries Vater, Doktor Braun, als Stabsarzt nach Frankreich zu. Die Sorge um die ins Feld Ziehenden, die teilte sie mit Tausenden von deutschen Müttern, aber eine andere, größere bedrückte Großmamas Herz.
Was war das Schicksal ihrer Tochter Elsbeth, der Mutter Annemaries?
Seitdem nicht nur Frankreich, sondern auch England in schnödester Weise sich zu Deutschlands Feinden geschlagen, hatte die alte Dame keine ruhige Minute mehr. Annemaries Mutter befand sich gerade bei Ausbruch des Krieges zu Besuch bei Verwandten in England. Würde es ihr möglich sein, unbehindert heimzukehren? Oder würde man sie dort als Deutsche festhalten? Das Kind, Doktors Nesthäkchen, ahnte zum Glück nichts von Großmamas Angst und Aufregung. Das stürzte bei jedem Klingelzeichen zur Tür, in der Hoffnung, die Mutter käme zurück. Oder doch wenigstens eine Nachricht von ihr.
Aber auch diese Sorge um die Tochter stellte die alte Dame großherzig den allgemeinen Sorgen um das bedrohte Vaterland hintenan. Ringsum neidische Feinde, wie sollte sich Deutschland bei aller Tapferkeit und Begeisterung da wohl behaupten? Masche um Masche glitt von einer Nadel zur anderen, Gedanke auf Gedanke glitt durch den alten Kopf.
Auch durch den jungen Kopf der kleinen Enkelin zuckten und sprangen die Gedanken, wenn sie auch weniger ernster Natur waren, als dies bei Großmama der Fall war.
Nur schwer fand sich Doktors Nesthäkchen jetzt in diesem Wirrwarr der Geschehnisse zurecht. Es war ja alles so schnell gegangen. Die Flucht aus dem Nordseebad Wittdün, wo sie ein ganzes Jahr im Kinderheim nach überstandener Krankheit zugebracht. Der jähe Wechsel zwischen der Stille des Seebades und dem lauten Kriegstumult in Berlin. Das Wiedersehen nach dem langen Trennungsjahr mit dem geliebten Vater, das nur wenige Stunden währte. Dann winkte er in feldgrauer Uniform seinem Nesthäkchen die letzten Grüße aus dem vollgepfropften Truppenzuge zu, der ein Scherzschild trug: »Durchgehender Wagen nach Paris.«
Auch zu Hause war alles jetzt so ganz anders. Weder Vater noch Mutter daheim, an denen die Kleine mit der ganzen Zärtlichkeit ihres Herzens hing. Oft lief Annemarie zu Muttis Fensterplatz, wie sie das früher stets getan, um ihr ganz etwas Wichtiges mitzuteilen. Aber der war leer. Oder sie glaubte, wenn draußen die Eingangstür ging, Vater käme aus der Praxis heim und wollte ihm wie sonst entgegenspringen.
Brachte sie dem Vaterland denn nicht schon genug Opfer, daß sie ihre Eltern solange entbehren mußte?
Wohl war die gute Großmama zu den drei augenblicklich elternlosen Kindern gezogen und versorgte sie getreulich. Allzusehr fanden die Enkel. Denn die durch die Kriegserklärung erregte alte Dame behielt sie, besonders die beiden jüngsten, Klaus und Annemarie, am liebsten an ihrer Seite. Bei dem wilden Strick Klaus gelang ihr das nur selten, der entwischte einfach der großmütterlichen Aufsicht. Nesthäkchen aber gab sich alle Mühe, der lieben Großmama, die an Ruhe gewöhnt war, ihr Amt nicht noch zu erschweren. Trotzdem dem kleinen Mädchen das durchaus nicht leicht wurde. Denn Annemarie war durch das Jahr an der Nordsee gewöhnt, sich frei in Garten, Strand und Heide umherzutummeln.
Auch von dem Wiederbeisammensein mit den älteren Brüdern, das sie herbeigesehnt, war sie recht enttäuscht. Ihr Lieblingsbruder Hans, der Obersekundaner, war als Pfadfinder ständig unterwegs im Dienst des Vaterlandes. Der hatte jetzt Wichtigeres zu tun, als sich mit seinem kleinen Schwesterchen zu beschäftigen. Und Klaus glänzte ebenfalls oft durch Abwesenheit. Der trieb sich allenthalben herum, wo Truppen ins Feld zogen, wo neue Kriegsdepeschen erschienen, und wo es einen Menschenauflauf gab. Großmama hätte den Schlingel am liebsten wie Puck an die Leine genommen.
Da blieb außer der Großmama nur noch Hanne, die Köchin, zur Gesellschaft für Nesthäkchen, das im Kinderheim stets mit munteren Altersgenossen zusammen gewesen, übrig. Die alte Köchin aber war ganz kopflos durch den Krieg geworden. Die redete von nichts anderem als von den Russen und von Hungersnot.
Wenn bloß erst Margot Thielen, ihre beste Schulfreundin, wieder daheim wäre! Dieselbe wohnte in demselben Hause wie Doktors Nesthäkchen. Von der zehnten Klasse an hatten sie getreulich zusammengehalten. Aber die Fenstervorhänge waren drüben noch immer fest geschlossen: soviel Annemarie auch hinüberäugte, sie wollten sich nicht heben. Wahrscheinlich waren Thielens durch die Militärzüge an der Heimreise von ihrem Ferienaufenthalt behindert worden. Aber zum Schulanfang würde sich Margot, die eine fleißige Schülerin war, doch sicher wieder einstellen. Annemarie sehnte deshalb den Beginn der Schule herbei, trotzdem sie Ferien sonst eigentlich mindestens so gern hatte. Auch auf die übrigen Schulfreundinnen, die sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen, freute sie sich. Großmama hatte im Namen des Vaters an den Direktor geschrieben und Annemarie für die sechste Klasse wieder angemeldet.
Das Strickzeug in den kleinen Händen klebte, so fest preßte sie es zwischen die Finger. Zehn ganze Minuten hatte sie nun schon emsig hintereinander gestrickt, und doch wollte der Pulswärmer gar nicht wachsen. Annemarie warf einen verzweifelten Blick zu der Turmuhr, die sie von ihrem Balkon aus erkennen konnte. Noch fast eine halbe Stunde bis zum Kaffeetrinken. Gerechter Strohsack – konnten die Soldaten wirklich ein solches Opfer von ihr verlangen? Kam denn gar nichts, was sie von dem langweiligen Strickzeug erlöste?
Großmama war in ihrem Korbsessel wohl durch die Hitze ein wenig eingenickt. Sie opferte jetzt sogar ihren Nachmittagsschlaf, um für die Krieger zu arbeiten und gleichzeitig Nesthäkchen zu beaufsichtigen. Na ja, alte Damen stricken eben gern, aber wenn man erst elf Jahre alt ist …
Ob sie es einfach machen sollte wie Klaus, und sich heimlich davonschleichen?
Ach nee, nee – dann ängstigte sich Großmama nachher, glaubte am Ende, sie sei vom Balkon gestürzt. Das wäre eine schlechte Vergeltung für all ihre treue Fürsorge.
Da – horch – Militärmusik – gleichmäßiges Klappen vieler Füße auf dem Straßenpflaster. Hui – flog das Strickzeug in die Ecke und Nesthäkchen an die Balkonbrüstung.
Aber auch Großmama war emporgeflogen, jäh aus ihrem Nickerchen aufgeschreckt. Jetzt stand sie hinter der Kleinen und hielt das sich weit über das Gitter lehnende Kind angstvoll am Schürzenbande fest.
Mit »Gloria-Viktoria«, mit Schingderassa und Schnetteretteng marschierten wieder neue Regimenter blumengeschmückt dem unweit gelegenen Bahnhofe zu. Ihnen zur Seite Frauen und Kinder, die den Söhnen, Männern und Vätern das Geleit gaben. Früh und spät erschallte jetzt der Sang ausrückender Truppen durch