»Ja, mein Herzchen, der Krieg fragt leider nicht nach Kinderfest und Kinderwünschen. Ich wollte auch, die Abreise wäre nicht nötig. Aber wenn es sein muß, wenn der Krieg unabwendbar ist, da müssen alle persönlichen Wünsche schweigen. Da dürfen wir nur an das Wohl unseres teuren Vaterlandes denken. Das könnt ihr Kinder, so jung ihr seid, auch schon begreifen. Die Großen wie die Kleinen müssen in solcher Zeit Opfer bringen,« sagte Frau Hauptmann ernst.
»Ja, aber – aber ich habe doch dann gar keine beste Freundin mehr hier im Kinderheim, wenn Sie mir die Gerda wegnehmen!« Jetzt ließen sich Annemaries Tränen nicht länger zurückhalten. Sie perlten und kullerten über die roten Backen, während sie den Arm fest, ganz fest um den Hals der Freundin schlang. Nein – solch ein großes Opfer könnte selbst das Vaterland nicht von ihr verlangen!
Auch die Augen des rotblonden Lockenköpfchens hatten sich mit Tränen gefüllt. Gerda ging der Abschied von der lustigen Annemarie ebenfalls nahe.
Frau Hauptmann wandte sich an Tante Lenchen.
»Was meinen Sie, Fräulein Petersen, ob wir die Annemarie Braun mit uns nehmen? Wir fahren sowieso über Berlin, dann ist das Kind wenigstens bei den Eltern daheim.«
Mit Gerda zusammen reisen – himmlisch – aber »nee, nee, das geht ja gar nicht! Meine Mutti kommt ja im August aus England mich holen – na, Mutti würde schöne Augen machen, wenn ich heidi bin!« noch unter Tränen mußte Annemarie lachen.
»Ich danke Ihnen vielmals, gnädige Frau, für Ihren freundlichen Vorschlag. Aber Ihr Gatte meinte, der Krieg wäre noch gar nicht sicher, es könnte noch alles mit Rußland sich gütlich ordnen. Ich möchte Annemaries Eltern in ihren Entschließungen ungern vorgreifen. Vielleicht kommt ein Telegramm, oder der Vater am Ende persönlich, sein Töchterchen zu holen. Dann wäre es für uns sehr peinlich, wenn Annemarie schon fort wäre. Sollte die Abreise von hier unbedingt notwendig werden – was Gott verhüten möge – so würden meine Schwester und ich selbst die Kinder heimbringen,« antwortete Tante Lenchen.
Annemarie fiel ein Stein vom Herzen. Nein, sie wollte noch in Wittdün bleiben, überhaupt – wo morgen Kinderfest war!
Bis zur Landungsbrücke gab sie ihrer Freundin Gerda noch das Geleit. Das Schiff war überfüllt. Nicht nur die Offiziere reisten ab, sondern auch ein großer Teil Zivilpersonen. Unter all den vielen Menschen entdeckte Annemarie auch Elschen und Gretchen aus Berlin, die ihren Struwwelpeter schweren Herzens in Stich lassen mußten. Kaum konnte sie Gerda einen Abschiedskuß geben, so drängten die Leute, um noch einen Platz auf dem Schiff zu erlangen. Die Tücher wehten, und das Schiff rauschte in den aufschäumenden Wogen dahin. Es trug manchen davon, der erst vor wenigen Tagen angekommen war.
Annemarie schlief heute allein in ihrem rosa Zimmer, das sie seit Ellens Fortgang nur noch mit der Freundin geteilt. Aber da die lebendige Gerda nun fort war, holte sich Doktors Nesthäkchen Puppe Gerda zur Gesellschaft herauf. Es war ihr sonst gar zu einsam.
»Nun habe ich nur noch dich,« sagte sie leise zu ihrer Puppe. Die machte ein Gesicht, als ob sie jedes Wort verstände.
Einen blaueren Himmel, und eine goldenere Sonne konnten sich die Kinder und die Wittdüner Badedirektion nicht wünschen, wie sie am Donnerstag über der Nordseeinsel Amrum erstrahlte. Und dennoch – es war leer geworden in Wittdün. Weder Burgenwettbewerb noch Fackelzug vermochten die Heimflüchtenden zurückzuhalten.
So waren es statt der mehreren hundert, wie man gedacht, nur noch einige sechzig Kinder, die sich am Donnerstag Nachmittag um drei am Friesenhäuschen oben auf der »Trampelbahn« versammelten. Es war ein wunderhübsches Bild, all die sonnengebräunten Kleinen mit den leuchtenden Augen und den nackten Beinchen! Das Herz im Leibe konnte einem lachen, wenn man die niedlichen, festlich gekleideten Blond-und Schwarzköpfchen zu Paaren antreten sah. Aber dazu mußte einem das Herz auch leicht und froh sein. Und das war es ganz und gar nicht. Je Heller die Sonne in Wittdün vom Himmel strahlte, umso dunkler und schwerer wurden die Wolken, die an Deutschlands Friedenshimmel aufzogen.
Die Kleinen, welche durch die Angst und Aufregung der Erwachsenen auch schon etwas beklommen geworden, vergaßen das alles bei den ersten Klängen der Musik. Die Badekapelle von Wittdün voran, Knaben mit wehenden Fahnen oder Trommeln. und blumengeschmückte kleine Mädchen hinterdrein, so setzte sich der feierliche Umzug die Wandel-oder Trampelbahn entlang in Bewegung. An den schön geschmückten Burgen vorüber ging es, da klopfte manch Kinderherz schneller vor Erwartung – wer würde der Glückliche sein, der den Hauptpreis davontrug?
Annemarie hatte sich, da Gerda abgefahren, keine andere Partnerin gesucht. Neben Kurts Rollstuhl schritt sie getreulich als letztes Paar. Der arme Junge sollte sich heute nicht ausgestoßen von den anderen fröhlichen Kindern fühlen. Manch mitleidiger Blick streifte den Knaben und blieb dann auf dem allerliebsten blonden Ding an seiner Seite haften. Auch Tante Lenchen, die mit Frau Kapitän zusah, klopfte Doktors Nesthäkchen anerkennend die heißen Wangen: »Brav, Annemarie, daß du so treu zu dem Kurt hältst!«
Auf dem Platz vor dem Kurhause waren lange Tafeln gedeckt. Dort wurden die kleinen Gäste mit Schokolade, Schlagsahne und Kuchen bewirtet. Annemarie saß strahlenden Gesichts neben Kurt und ließ es sich schmecken.
Kaum waren die Tassen geleert und die Kuchenberge vertilgt, so ging’s ans Spielen. Drei große Kreise wurden gebildet unter Leitung der Damen aus den verschiedenen Kinderheimen. Da spielte man Katze und Maus, Blindekuh und Dritten abschlagen – war es möglich, daß die Eltern bei dem Jauchzen und Jubelgekreisch ihrer Kinder noch düstere Kriegsgedanken hegen konnten?
O ja – dieses und jenes Kind wurde plötzlich aus dem frohen spielenden Kreis entfernt. Der weiße Feststaat wurde in Windeseile mit Reisekleidern vertauscht, und noch ehe das Kinderfest zu Ende war, saßen schon wieder so und so viele von den kleinen Gästen, die noch vor kurzem nichtsahnend ihre Schokolade getrunken, auf dem heimwärts dampfenden Schiff. Aber ohne Weinen ging das freilich nicht ab, und daran waren nur die Eiltelegramme schuld, welche die Eltern erhalten.
Das Kinderfest nahm inzwischen seinen Verlauf, wenn auch nicht ganz ungestört von diesen unvorhergesehenen Abfahrten.
Wettspiele fanden statt mit Preisverteilung. Annemarie Braun wurde Siegerin im Wettlauf und erhielt ein allerliebstes Bild von Wittdün. Dann wurden die am schönsten geschmückten Burgen prämiiert. Der Hauptpreis, in einem Tennisschläger bestehend, fiel einem Bremer Geschwisterpaar zu. Die hatten die Bremer Stadtmusikanten ganz reizend auf ihrer Burg aus Muscheln fabriziert.
»Au, werden die sich um den Tennisschläger aber zanken,« meinte Annemarie zu Kurt, der den Spielen nur zuschauen durfte. Doch er tat es frohen Auges, er war ja so glücklich, überhaupt dabei sein zu können.
»Zweiter Preis – ein Gänsemädel,« erschallte es da von dem Geschenktisch mitten in die Unterhaltung der zwei hinein.
»Wir – wir« – in höchster Aufregung wollte Doktors Nesthäkchen nach vorn stürmen. Da aber fiel ihr ein, daß sie ja eigentlich das Wenigste an dem Gänsemädelbild gemacht hatte. Gerda war fort, und Kurt, den Hauptkünstler, wollte sie zurücklassen? Nein, so gemein war sie nicht. Mit einigen kräftigen Stößen schob sie den Rollwagen durch die sich um den Preisrichter drängende Menge.
»Hier – Kurt hat den Gänsemädelpreis gewonnen!« rief sie mit schallender Stimme statt des schüchternen Knaben.
Man überreichte Kurt mit einigen anerkennenden Worten Andersens Märchen. Der Junge stammelte einen verlegenen Dank. Glückstrahlend blickte er auf das schöne Buch, das er besonders liebte. Dann aber wandte er sich in plötzlichem Entschluß an die hinter ihm stehende Annemarie.
»Da, Annemie, du hast ebenso viel Teil an dem Preis wie ich,« sagte er selbstlos.
»Nee – ih wo, keine einzige Gans stammt von mir, und dann habe ich ja auch schon das schöne Bild,« ereiferte sich Doktors Nesthäkchen. Da mußte