Gott sei Dank – sie waren oben. Neben Frau Kapitän und Tante Lenchen stand sie unter einer Unmenge von schreienden und rufenden Menschen, unter Tausenden von Gepäckstücken.
Vadder Hinrich und Modder Antje reichten das Handgepäck der Frau Kapitän hinauf und winkten dem in See stechenden Schiff die letzten Grüße nach. Die Landungsbrücke war noch immer schwarz von Zurückgebliebenen. Wie mochten die heimbefördert werden?
Mit feuchten Augen sah die weißhaarige Frau den Strand, an dem sie eine segensreiche Tätigkeit gefunden, mehr und mehr entschwinden. Bitterlicher aber weinte Doktors Nesthäkchen um ihre ertrunkene Gerda, mit der noch ihre Kinder und Kindeskinder einst spielen sollten. Würde der Quallenkönig die arme Gerda holen?
Das war das erste Opfer, das der Krieg von Doktors Nesthäkchen forderte.
21. Kapitel
Nesthäkchens Heimkehr
Es war eine wunderbare Seefahrt in der rosigen Morgenbeleuchtung. Aber trotzdem atmete jeder auf, als dieselbe vorüber, als endlich das Festland erreicht war. Die Mole herab zur Kleinbahn, die von Dagebüll nach Niebüll führte, ging es wieder in rasender Hetze. Diesmal hatte Tante Lenchen Kurt auf dem Arm. Nur zwei elektrische Wagen standen für die große Menschenmenge zur Weiterbeförderung zur Verfügung. Aber unsere Reisenden hatten Glück – sie kamen alle mit.
»So – nun sind wir geborgen«, sagte Tante Lenchen mit erhitztem Gesicht, tief aufatmend. »Von Niebüll an haben wir Eisenbahn, da wird das Mitkommen leichter sein.«
»Dort werden wir erst mal Kaffee trinken, es geht auf neun, und wir sind noch alle nüchtern«, ließ Frau Kapitän sich hören. »Wir haben genügend Zeit dazu.« Auch die Kinder hatten vor Angst und Aufregung, bis sie auf dem Lande waren, nichts essen mögen. Bei Annemarie kam noch die Trauer um die ertrunkene Gerda dazu.
Auf der Station in Niebüll bestellten die Damen Kaffee und Kakao. Die Kinder zogen ihre Brote aus den Taschen, und man wollte es sich eben schmecken lassen, da – fuhr ein Zug ein.
»Wir müssen unser Frühstück im Stich lassen und den Zug benutzen, es ist unbestimmt, ob der Nachzug noch geht«, damit scheuchte Tante Lenchen, die sich bei einem Beamten erkundigt hatte, ihre Gesellschaft wieder in die Höhe.
Derselbe Andrang wie am Schiff, die Abteile überfüllt. Doktors Nesthäkchen verlor Tante Lenchen und Frau Kapitän in dem Gedränge. Gleich sollte der Zug abgehen.
»Tante Lenchen – Tante Lenchen« – das kleine Mädchen irrte unter den vielen nach Platz Suchenden laut heulend hin und her.
Da griffen wieder ein Paar rettende Arme nach Doktors Nesthäkchen, diesmal gehörten sie einem freundlichen alten Herrn an.
»So ein Kleines kann hier schon noch mit rein – weine nicht, Kindchen, in Hamburg findest du deine Tante wieder.«
»Tante Lenchen wird sich um mich sorgen«, jammerte Annemarie noch immer.
Der nette alte Herr spähte heraus. Ein blonder Damenkopf neigte sich aus einem Fenster: »Annemarie, Annemarie, wo bist du?« rief es in höchster Angst.
»Annemarie ist hier bei uns, Tante Lenchen!« mit dröhnender Stimme rief es der alte Herr zurück.
Trotz des Prustens der sich in Bewegung setzenden Lokomotive hatte Tante Lenchen die Worte noch vernommen und war beruhigt.
In rührender Weise sorgten die Mitreisenden für das fremde kleine Mädchen. Sie gaben dem hungrigen Kinde von ihren eigenen Vorräten. Das ganze Abteil war wie eine einzige Familie. Man sprach von nichts anderem, als von der voraussichtlichen Kriegserklärung.
Am Nordostkanal tauchten die ersten Feldgrauen auf.
»Schau, Kind, das sind unsere braven Truppen, welche unsere Grenzen vor dem einbrechenden Feind schützen sollen«, machte der alte Herr Annemarie aufmerksam.
An seinen Rockärmel gelehnt, schlief sie dann sanft bis Hamburg. Denn der kurzen Nachtruhe und der furchtbaren Aufregung folgte jetzt eine starke Abspannung.
In Hamburg, wo sich Doktors Nesthäkchen dankbar von ihrem Beschützer trennte, fand es Frau Kapitän und Tante Lenchen freudestrahlend wieder. Erstere fuhr von hier aus mit Annekathrein nach Stettin, wo das Kind zu Hause war. Das gab einen zärtlichen Abschied von Frau Kapitän und Klein-Annekathrein. Immer wieder küßte Annemarie der weißhaarigen Frau, die so treulich für sie das Jahr über gesorgt, die Hand.
Dann bestieg Tante Lenchen mit ihren beiden Schutzbefohlenen den bis auf das letzte Plätzchen von den aus allen Seebädern Flüchtenden besetzten D-Zug nach Berlin. Draußen im Gang auf einer Hutschachtel thronte Doktors Nesthäkchen die ganze Zeit über, eingepfercht zwischen lauter Gepäckstücken.
Unbeschreiblich war das Gewimmel auf dem Lehrter Bahnhof, als Berlin nun endlich glücklich erreicht war.
»Wir lassen unser Gepäck ruhig auf der Bahn, es ist unmöglich, es heute herauszubekommen. So schnell wie möglich wollen wir zu euren Eltern nach Hause«, sagte Tante Lenchen und winkte einem Auto.
Vom Königlichen Schloß und von den Linden her wälzten sich ungeheure Menschenmassen, hurrarufend und Vaterlandslieder singend, die Straßen entlang.
Die Kriegserklärung gegen Rußland war soeben bekannt gegeben, der Kaiser hatte sein Volk zu den Waffen gerufen. In jubelnder Begeisterung erhob sich jung und alt, das Vaterland vor einer Welt von Feinden zu beschützen.
Unter brausenden Hurrarufen hielt Doktors Nesthäkchen nach einem Jahr wieder seinen Einzug in seiner Heimatstadt.
Mit großen Augen sah es die glühende Begeisterung rings. So jung Annemarie auch war, die Größe dieser gewaltigen Stunde offenbarte sich auch ihr, blieb ihr unvergeßlich für ihr ganzes Leben.
Kurts Eltern, welche das Telegramm rechtzeitig erhalten, schauten schon vom Balkon nach ihrem Jungen aus.
Annemarie versprach, den Freund sehr bald zu besuchen, dann ratterte das Auto weiter.
»Wenn nur Vater und die Jungen schon da sind!« jetzt erst, wo sie wirklich in Berlin war, wagte sich die Wiedersehensfreude bei Annemarie hervor. Hatte sie doch ihre Lieben ein ganzes Jahr lang nicht gesehen. Mutti war sicherlich noch in England.
Vor dem hohen Hause mit dem kleinen Vorgarten hielt das Auto. Nanu – keiner auf dem Balkon? Klaus kam nicht die Treppe herabgesaust, wie Annemarie es sich vorgestellt? Ganz bestürzt blickte sie, während Tante Lenchen den Autoführer ablohnte, zu den Fenstern empor.
Da trat der Hausmeister aus der Tür.
»Herrejeh – Doktors Nesthäkchen – na, wieder da, Fräuleinchen? Du bist die allererste, von die Herrschaften is noch keiner nich zurück, auch die Hanne is noch in ihrer Heimat.«
Nesthäkchens Gesicht wurde noch viel bestürzter.
Gar keiner von ihren Lieben in Berlin – doch – einer kam aus der Portierloge herausgestürzt mit lautem Gebell und seligen Freudensprüngen – Puck, den Doktor Brauns während der Reise bei dem Pförtner in Pension gegeben. Der leckte seiner kleinen Freundin vor Wiedersehensglück die Hand, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ihn Annemarie mitten auf sein kaltes, schwarzes Schnäuzchen einen Kuß gegeben. Doch wenigstens einer von der Familie!
»Ja, was mache ich nun mit dir, Annemarie, wo liefere ich dich nun bloß ab?« überlegte Tante Lenchen.
»Entweder bei der Großmama, falls die schon aus Harzburg zurück ist, oder bei Thielens hier im Hause. Margot Thielen ist nämlich meine beste Freundin von früher«, erklärte das kleine Mädchen.
»Also zur Großmama. Die hat das erste Anrecht