Nachdem Doktors Nesthäkchen Line, der Köchin, ihren Taler und den Blusenstoff von den Eltern überreicht hatte, wandte sie sich an Dörthe. Auch diese bekam aus Berlin einen netten Stoff.
»Da«, sagte Annemarie und händigte dem Hausmädchen das Geschenk der Eltern ein, »und hier ist noch ein Groschen für Sie, Dörthe« – das klang ungeheuer großartig – »und wenn Sie mich, als ich herkam, nicht verklatscht hätten, daß ich meine Sachen herumliegen lasse, hätte ich Ihnen sogar einen Taler geschenkt!« So – die Dörthe sollte wenigstens doch auch wissen, warum die Line einen Taler bekam, und sie nur einen Groschen.
Das Mädchen machte ein ganz betroffenes Gesicht. Viele Jahre war sie schon in der Villa Daheim, aber solch ein Weihnachten hatte ihr noch kein Kind angeboten. Sie wußte nicht, sollte sie sich ärgern oder lachen.
Auch Tante Lenchen, die Annemaries Rede gehört, mußte sich zur Seite wenden, um ihre belustigte Miene zu verbergen. Dann aber neigte sie sich zu dem energischen kleinen Blondkopf herab.
»Annemarie,« flüsterte sie ihr zu, »hätte die Dörthe mir damals nicht mitgeteilt, daß du deine Sachen herumliegen läßt, dann würde ich mich jetzt bei der Wochenkontrolle wohl nicht jedesmal über deinen Schrank und deine Kästen freuen können. Du bist der Dörthe nur zu Dank verpflichtet, daß du jetzt ein ordentliches kleines Mädchen geworden bist!« sagte sie mahnend.
Doktors Nesthäkchen wurde rot. Es schwankte. Dann aber siegte Annemaries gutes Herz. Wenn das wirklich so war, daß sie der Dörthe dankbar sein mußte – und Tante Lenchen mußte es doch wohl wissen – dann war es Anrecht, dem Mädchen den Taler nicht zu geben. Schnell lief die Kleine hinter Dörthe her.
»Da, Dörthe, ich hab’s mir doch anders überlegt, da haben Sie Ihren Taler! Aber den Groschen müssen Sie nun wiedergeben: Jetzt lachte die Dörthe wirklich über das drollige kleine Mädchen – Annemarie fand das ganz in der Ordnung. Natürlich, die konnte sich auch freuen, wenn sie den Taler nun doch noch bekam.
Nachdem die Bescherung in der Villa vorüber war und die schönen Geschenke genugsam bewundert worden, schlüpften die Clarsenschen Kinder in ihre warmen Mäntel. Nun ging es zu Vadder Hinrich und Modder Antje in das mit Eiszapfen behangene Friesenhäuschen, denen ihren Weihnachten zu bringen.
Ein bewunderndes »Ah« entschlüpfte den Kinderlippen, als sie die Tür des buntkacheligen Friesenstübchens öffneten. In der Mitte hing von der Decke herab eine weihnachtliche Bauernkrone aus Tannengewinde und bunten, herabflatternden Bändern, ringsum im Kreise mit brennenden Lichtchen besteckt.
»Ih, sowat habt ihr lütten Stadtdeern doch woll noch nich seihn (gesehen)«, sagte Mutter Antje zu ihren bewundernden kleinen Gästen. »Nu sollt ihr aber ok min (meinen) Weihnachtskuchen kosten.« Gutmütig stopfte sie die Mäulchen und Händchen mit Gebäck voll. Kaum nahm sie sich vor lauter Gastlichkeit Zeit, die Gaben, die Tante Lenchen für sie beide auf dem weißgescheuerten Tisch ausbreitete, in Empfang zu nehmen.
Am meisten freuten sich Vadder Hinrich und Modder Antje über Annemaries Weihnachtsgeschenk. Das kleine Mädchen hatte die böse Sturmnacht, in der die beiden alten Leutchen sie heimgeholt, nicht vergessen. Dankbar hatte sie jedem von ihnen ein Paar Pulswärmer gestrickt.
»Nee, wo nüdlich! Dat hat de lütte Deern selbst für uns makt (gemacht)?« Oll Modder Antje konnte sich gar nicht vor Freude beruhigen.
Vadder Hinrich aber ging an die alte Truhe in der Ecke und begann darin zu kramen. Dann brachte er sieben allerliebste Segelschiffchen herbei, die er für seine kleinen Freunde verfertigt. Ei, die sollten im nächsten Sommer aber tüchtig auf den Wellen schaukeln!
Die ganze kleine Gesellschaft nahm nun auf der Ofenbank um den grünen Kachelofen, in dem das Kienfeuer gemütlich prasselte und knackte, Platz. Mutter Antje holte ihren Spinnrocken herbei – denn am Weihnachtsabend spinnt man sich den Segen für das kommende Jahr ins Haus, so berichtet die friesische Sage. Oll Vadder Hinrich stopfte sich seine Pip Toback. Und nun ging’s ans Vertellen (Erzählen). Der Faden des Spinnrädchens schnurrte mit dem Faden der Erzählung der Alten um die Wette.
Mit heißen Wangen und glänzenden Augen lauschten die Kinder. Wie die guten »Onnerbankjes« – so heißen die kleinen Geister, weil sie heimlich unter der Bank hocken und alles im Hause hören und sehen – dem armen Fischer am Weihnachtsabend einen goldenen Fisch ins Netz gezaubert, daß er Geld genug hatte, sein Leben lang. Wie sie der armen Witwe mit den hungrigen Kleinen den Wundertopf geschenkt, in dem stets eine gute Weihnachtsgrütze brodelte. Wie sie dem Kranken einen Trank von vielerlei Heidewurzeln gebraut, daß er wieder ganz gesund wurde. Aber auch von Schabernack, von so mancher Strafe wußte die spinnende Alte zu berichten, welche die kleinen Wichtelmännchen den faulen und schlechten Menschen zuteil werden ließen.
Ängstlich lugte der Peter unter die Ofenbank, auf der er saß. Hockte da auch keiner von den winzigen Gesellen, die ihm übel mitspielen wollten? Denn ein ganz reines Gewissen hatte der Peter eigentlich niemals.
Aber alles nimmt mal ein Ende, leider auch der Weihnachtsabend. Durch den schneeknirschenden Garten stampften die Kinderfüße wieder zurück zur Villa. Annemarie Arm in Arm mit ihrer Freundin Gerda. Beide blickten zum sternfunkelnden Himmel empor. Stern an Stern blitzte und flammte da – das war der himmlische Weihnachtsbaum, den der liebe Herrgott für seine Englein dort droben angezündet.
19. Kapitel
Kinderfest
Die Wellen des Meeres rollten dahin, unaufhörlich, eine nach der andern. So rollten auch die Tage in dem Wittdüner Kinderheim ab, einer nach dem andern. Der Winter mit seinen jauchzenden Schneeballschlachten und lustigen Schlittenfahrten durch die frostblinkende Heide, mit seiner fleißigen Arbeit und den traulichen Feierabenden ging dahin. Später als im Binnenland wagte sich der Frühling an die sturmumwehte Meeresküste. Erst nach Ostern lugten im Garten auf den Kinderbeeten die ersten Veilchen und Primeln heraus.
Ostern hatte manche Veränderung in Villa Daheim gebracht. Ein Teil der Zöglinge verließ das liebe Haus – neue kamen. Die Backfische und Ellen, Peter und Lothar, sie waren gekräftigt wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Allen ward der Abschied schwer.
Trotzdem der schlimme Peter sich im Laufe der Zeit gebessert hatte, war seine Abreise nur vorteilhaft für Doktors Nesthäkchen. Die jetzt elfjährige Annemarie schloß sich nun noch inniger an die sanfte Gerda an. Der lange Aufenthalt an der Nordsee hakte bei Gerdas Leiden geradezu Wunder gewirkt. Das Hinken und die Steifheit des Beines hatte sich vollständig gegeben. Wenn das kleine Mädchen sich auch noch schonen mußte und noch nicht umhertollen durfte, konnte man es doch schon als geheilt betrachten. Annemarie war über die Genesung ihrer Freundin fast noch glücklicher als diese selbst.
Wie erstaunte Doktors Nesthäkchen aber, als sie eines Tages unter den neu ankommenden Zöglingen ihren kleinen Rollstuhlfreund Kurt aus Vaters Klinik erkannte. Doktor Braun hatte den Jungen, da er durch die Briefe seiner Lotte von dem glänzenden Erfolg bei Gerda Eberhard gehört, ebenfalls an die Nordsee geschickt, um dort gesund zu werden.
Kurt aber erkannte seine kleine Freundin, mit der er damals nur von weitem verkehren durfte, nicht. Trotzdem er von Doktor Braun wußte, daß Annemarie sich in dem Wittdüner Kinderheim befand. Was – das sollte das kleine bleiche Mädchen sein, mit den müden Augen, wie er sie in Erinnerung hatte? Das war ja ein braunrot gebranntes, wie ein Bauernmädel aussehendes Kind! Aber als Annemarie ihn freudig begrüßte, mußte er es wohl glauben, daß die Nordsee diese wunderbare Verwandlung hervorgebracht.
»Und