Es fing an, in Strömen zu regnen. Tante Lenchen in der dünnen Battistbluse war bald durchweicht. Und jetzt vernahm auch sie das Donnern und Brausen der zurückkehrenden Flut. Aber was die Kinder mit Schrecken und Entsetzen erfüllte, war ihr eine Beruhigung. Die Flut kam – nun war es ja ganz sicher, daß sich die beiden nicht mehr auf dem Watt befanden. Lange vorher merkte man ja schon das Nahen der Wasser. Gewiß waren die durchtriebenen Gören längst zu den anderen gestoßen, hatten sich übermütig versteckt gehalten und ließen Tante Lenchen hier im Regenguß nach ihnen suchen. Na, aber wartet nur – das soll euch schlecht bekommen!
Tante Lenchen machte sich, gegen Sturm und Regen kämpfend, nun selbst auf den Heimweg, in der festen Annahme, daß Peter und Annemarie längst zu Hause seien.
Die übrigen Kinder waren noch ziemlich trocken in Villa Daheim angelangt und schrieben nun Briefe. Keins machte sich irgendwelche Gedanken über die Ausgebliebenen. Sicher kamen sie bald mit Tante Lenchen nach.
»Na, wo sind die kleinen Ausreißer?« triefend naß, wollte Tante Lenchen, daheim angelangt, sofort in ihr Zimmer, um sich umzukleiden.
»Die Kinders – hat Miß Petersen nicht gefindet sie – tun sie nicht kommen mit – – –«
»Ja, sind sie denn noch nicht hier?« erblassend unterbrach Tante Lenchen das Kauderwelsch der Engländerin.
»No – no – sie sein nicht gekommt – oh, sie uerden uarten ab Regen in Uald oder in ein Haus von Bauers,« tröstete Miß John, als sie das erschreckte Gesicht der jungen Dame sah.
Das leuchtete auch Tante Lenchen ein. Gewiß, sie hatten irgendwo bei dem Unwetter Unterschlupf gesucht – sie waren ja, abgesehen von ihren Dummheiten, ganz verständige Kinder. Sobald der Regen nachließ, würden sie sich gewiß ganz vergnügt einstellen.
Jedenfalls beschloß Tante Lenchen, ihrer Schwester gar nicht erst etwas von dem Fehlen der beiden zu sagen. Wozu sie unnütz ängstigen. Frau Kapitän Clarsen war sowieso bei solchen Sturmfluten stets besonders erregt, war es doch auch solch eine böse Nacht gewesen, die ihr ihren Gatten geraubt.
Tante Lenchen kleidete sich um. Aber trotzdem sie sich selbst beruhigte: »Sie können ja noch gar nicht hier sein – es regnet ja noch viel zu stark,« flog sie vor innerer Erregung.
Der Abend kam. Mit ihm wuchs die entsetzliche Unruhe. Tante Lenchen dachte nicht daran, daß sie soeben erst trockene Kleider angelegt hatte. Sie eilte, wie sie ging und stand, vor die Gartenpforte – von dort konnte sie die Straße überblicken, da sah sie die Zurückkehrenden ein paar Minuten früher.
Stichdunkel war es inzwischen geworden, man konnte nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Und doch rührte sich Tante Lenchen nicht vom Platz, trotzdem der Regenguß nun schon zum zweitenmal sie durchweicht hatte.
Nein – nein, es konnte ja nicht sein, was ihre erregte, angsterfüllte Phantasie ihr in der beklemmenden Finsternis immer wieder vorzumalen suchte. Es war ja nicht denkbar, daß die Kinder auf dem Watt von der Sturmflut überrascht worden waren!
Ihre Haare sträubten sich vor Entsetzen, wenn sie nur an die Möglichkeit dachte – nein, bestimmt waren sie bei guten Menschen und kamen bald heim.
Die Glocke ertönte – schon Abendbrotzeit. Nun half es nichts, nun mußte sie es der Schwester sagen. Sie würde die beiden doch sicher gleich vermissen.
So unbefangen, als es ihr möglich, entledigte sich Tante Lenchen ihrer schweren Botschaft.
»Peter und Annemarie hatten sich von den anderen abgesondert, sind mal wieder ihre eigenen Wege gegangen. Sie sind wegen des Unwetters sicherlich irgendwo untergetreten,« kam sie einer Frage der Schwester zuvor.
Frau Kapitän beruhigte sich zuerst dabei. Aber als das Abendessen verlief, ohne daß die beiden Vermißten erschienen, als sie bemerkte, daß Tante Lenchen keinen Bissen zum Munde führte, begann das Herz auch ihr zu schlagen.
Nachdem die Kinder den Eßsaal verlassen hatten, winkte Frau Kapitän Fräulein Mahldorf und Miß John zu sich.
»Wo haben Sie die Kinder zuletzt gesehen?« forschte sie angstvoll.
Da kam es zutage, daß dies auf dem Watt der Fall gewesen.
Das Watt – entsetzt bedeckte Frau Kapitän beide Augen. Das tückische Watt – so manchen Braven hatte es schon in seinen Fluten begraben! Und war es nicht heute wieder solche Sturmnacht wie damals – – –
»Um Gotteswillen, sendet Leute aus, sonst sind die Kinder verloren,« kaum hielt sich die zarte Frau vor Erregung aufrecht.
Tante Lenchen jagte bereits zum Friesenhäuschen.
»Vadder Hinrich – wir müssen nach Peter und Annemarie suchen, sie sind auf dem Watt verloren gegangen – – –« was sie bisher sich gesträubt hatte, zu glauben, war ihr plötzlich zur Gewißheit geworden.
Vadder Hinrich und Mutter Antje saßen am grünen Kachelofen. Er qualmte seine Pip Toback, während sie das Spinnrad drehte. Zäh hielten sie beide in ihrer friedlichen Beschäftigung inne.
»Jo – jo – wenn dat se in de Sturmflut rinnerkummen sünd, denn gnade ihnen uns’ Herrgott. Da werden wir se woll nich eher, als wenn wedder Ebbe is, herutfischen,« sagte der Alte, umständlich seine Pfeife aus dem Mund nehmend.
»Ach Snack – da, treck (zieh) dich lieber dein Tranjack an, man ’n büschen fixing, und such’ nach unsern Kinners,« oll Modder Antje, die sonst nicht leicht ihre Ruhe verlor, sprang erschreckt auf. »Ick gah’ ok mit, de lütte säute Deern un den ollen Jung, de wulln wir schon wedder nah Hus (nach Haus) bringen.« Die gute Alte zog sich selbst hohe Wasserstiefel an.
»Jo, jo – ein hellschen sweres Stück Arbeit wird’s woll sünd – leichter is dat all, ein Schiff der See abzujagen, als zwei so lütte Kinners. Na, hewen (haben) Se man keine Bang nich,« wandte er sich an die zitternde junge Dame, »labendig oder dot, oll Vadder Hinrich bringt se.«
Das war nun grade nicht dazu angetan, Tante Lenchens furchtbare Sorge zu zerstreuen. Während Mutter Antje Laternen entzündete, und Vadder Hinrich fortstampfte, um noch einige andere Lotsen zur Suche herbeizuholen, eilte sie zur Rettungsstation. Fräulein Mahldorf, die kaum weniger aufgeregt war, getreulich hinter ihr her.
»Sie können sich ja auch bei der Dunkelheit in der Heide verirrt haben,« an diesen Trost Fräulein Mahldorfs klammerte sich Tante Lenchens armes Herz.
Auch von der Rettungsstation wurden sofort Leute in alle Richtungen ausgesandt, nach den Verlorenen zu forschen. Grade als Tante Lenchen die Rettungsstation wieder verlassen hatte, klingelte das Telephon. Der Leuchtturmwächter telephonierte, daß die Kinder bei ihm in Sicherheit seien. Ein Bote eilte sofort mit der Freudenbotschaft den beiden Damen nach.
Tante Lenchen, die sich bisher so tapfer gehalten, versagten jetzt, wo sie die Gewißheit hatte, daß die Kinder am Leben waren, die Füße. Sie mußte sich an ein Gartengitter lehnen. Dann aber zwang sie mit Gewalt die Schwäche nieder. Heim zur Schwester, die vor Angst um das ihr anvertraute Gut verging.
Kurz vor Villa Daheim trafen sie auf die ausziehende Lotsenkolonne. Wie Glühwürmchen leuchteten ihre Laternen in der Dunkelheit.
»Sie sind da – sie sind beim Leuchtturmwächter!« Tante Lenchen rief es voll Glückseligkeit schon von weitem.
»Dat hew (hab’) ick wußt, dat läßt uns’ Herrgott da oben nich tau (zu), dat zwei lütte unschullige Kinners ins Watt umkommen dun«, sagte Mutter Antje nicht weniger erfreut. »Fixing, Ollscher, wi gahn (wir gehen) gleich nach ihn’ hin und holen se heim, ihr annern könnt jo nu do bliwen (dableiben).« Die beiden Laternchen entfernten sich in der Richtung des Leuchtturms.
»Sie sind da – sie sind gefunden – – –!« jubelnd klang es durch Villa Daheim, wo Frau Kapitän stöhnend den weißen Kopf in den Händen vergrub, wo Gerda in Tränen zerfloß.
Der liebe Gott hatte ihnen beigestanden – er hatte die Kinder errettet und Frau Kapitän von der fürchterlichen Verantwortung