»Nein, es wird schon wieder gehen,« mühsam erhob sich Annemarie. »Aber wie finden wir jetzt in der Nacht den Weg durch die finstere Heide – ach, du lieber Gott, wie mag sich Tante Lenchen um uns sorgen!« Bei dieser Vorstellung begann Annemarie wieder zu weinen.
»Durch die Heide finden wir natürlich nicht zurück. Wir sind, wie es scheint, an einer ganz anderen Stelle des Strandes herausgekommen. Wir müssen den Leuchtturm zu erreichen suchen, dort werden sicherlich Menschen sein. Durch das Blinkfeuer können wir nicht fehlgehen.« Trotzdem Peter möglichst beruhigend sprach, schlug auch ihm das Herz.
Wieder machten sich die ermüdeten Kinder auf den Marsch. Ach, wie langsam ging das. Schritt für Schritt. Die nackten Füße schmerzten, Stranddisteln und scharfe Muscheln ritzten sie blutig. Aber jedesmal, wenn Annemarie glaubte, nun könne sie bestimmt nicht mehr weiter, dann blitzte wieder das Leuchtfeuer vor ihnen trostverheißend auf – auch den Mut der Kinder aufs neue entzündend. Näher und näher kam das Blinklicht, immer heller und größer ward es.
Nun standen sie endlich vor dem Häuschen des Leuchtturmwächters, das tief unter dem auf hoher Düne thronenden Leuchtturm am Strande lag. Der Schein einer Lampe flimmerte traulich durch das unverhangene Fenster.
Mit klammen Fingern pochte Peter an. Aber das leise Klopfen ging in dem Schnauben und Toben von Sturm und Meer unter. Kurz entschlossen öffnete der Junge die Tür, denn seine kleine Begleiterin war am Rande ihrer Kräfte.
»Vater, bist du’s?« eine helle Mädchenstimme schallte den beiden Kindern entgegen. Aber als der schwere Tritt, der sonst durch den Steinflur zu dröhnen pflegte, ausblieb, eilte des Turmwächters Töchterlein, die Lampe in der Hand, verwundert hinaus.
»Herrejeh –« mitleidig blickte sie auf die ganz durchnäßten und völlig erschöpften Kinder. »Wo kommt Ihr denn her in dieser furchtbaren Sturmnacht?«
»Wir haben uns verirrt – die Flut hat uns überrascht.« Frostklappernd gab Peter Auskunft.
Annemarie lehnte teilnahmslos am Türpfosten.
Die Leuchtturm-Christel war mit ihren vierzehn Jahren ein sehr verständiges Mädchen. Manch liebesmal schon hatte sie Gestrandeten und von den Lotsen ans Land gebrachten Schiffbrüchigen erste Hilfe geleistet. Sie wußte, was not tat.
»Kommt in die warme Stube, ihr seid ja ganz durchnäßt,« sagte sie freundlich und zog die beiden kleinen Verirrten ins Zimmer. »So, nun schleunigst die nassen Sachen vom Leibe! Du kannst dich drin in der Kammer umziehen, Jung, ich leg’ dir trockenes Zeug hin. Ach Gott, du arme, lütte Deern, bist ja ganz verklommt, und auf den Füßen kannst dich auch nicht mehr halten. Dich leg’ ich am besten in mein Bett.« Mit rascher Hand zog die gutherzige Christel Annemarie die triefenden, vor Nässe am Körper klebenden Kleider herunter, und hüllte sie in trockene Wäsche und warme Decken. Dann trug sie das erschöpfte Kind in ihr eigenes Bett und legte vorsorglich eine Wärmkruke hinein.
Das Wasser auf dem kleinen Herd kochte grade zur Abendsuppe für den Vater. Im Nu hatte das umsichtige Mädel Tee aufgebrüht. Dazu goß sie einen tüchtigen Schluck Rum, denn ein steifer Grog regt am ersten die ermatteten Lebensgeister wieder an, pflegte der Vater zu sagen. Wenn das auch nun wohl mehr für die Schiffer und Seeleute zutraf, als für Kinder, so fühlte Annemarie doch bald, nachdem die hellblonde Christel ihr einige Schlucke von dem feurigen Getränk eingeflößt hatte, eine wohltuende Wärme durch ihre erstarrten Glieder rieseln.
Auch Peter, der in viel zu großer schwarzer Lederhose und blaugestricktem Wams des Leuchtturmwächters und in dicken rotwollenen Strümpfen und Holzpantinen der Christel erschien, fühlte seinen gesunkenen Jungenmut durch den heißen Grog wieder neu belebt. Ihm begann das furchtbare Abenteuer jetzt, wo er in Sicherheit und im Trockenen war, sogar schon wieder Spaß zu machen.
»Wir müssen Nachricht ans Kinderheim nach Wittdün schicken, wo wir sind. Frau Kapitän und Tante Lenchen werden sich schrecklich um uns sorgen,« das waren die ersten Worte, die Annemarie wieder sprach. Trotzdem das kleine Mädel so ermattet war, dachte es daran zuerst.
»Ich lauf’ schnell zum Vater hinauf in den Turm, der kann am Ende an die Rettungsstation in Wittdün telephonieren, daß sie dem Kinderheim Bescheid gibt.« Die Leuchtturm-Christel schlug ein großes Tuch über den Kopf. »So, Jung, du bleibst bei der lütten Deern und gibst ihr ab und zu was Heißes zu trinken – ich bin bald wieder zurück.« Das gefällige Mädchen ließ sich die genaue Adresse des Kinderheims geben, dann eilte es in die Sturmnacht hinaus.
Über hundert Stufen mußte die Christel vom Strand bis zum Fuß des Turmes emporsteigen. Trotz des großen Tuches packte der Nordwest sie bei den hellen Haaren. Aber des Leuchtturmwächters Töchterlein war an Wind und Wetter gewöhnt. Weiter ging es hastig die Turmtreppen hinauf, diesmal waren es fast zweihundert Stufen, die das Mädchen erklimmen mußte. In dem Raum, in welchem die blitzenden Prismen des Leuchtapparates erstrahlten, fand es endlich den Vater. In kurzen Worten teilte es ihm das Nötige mit und bald war die Rettungsstation in Wittdün, die bereits von Frau Kapitän Clarsen zur Auffindung der verlorenen Kinder in Bewegung gesetzt worden war, von ihrem Verbleib benachrichtigt.
Wie so manchem Schiffe in Gefahr und Not, war auch der Leuchtturm den beiden Kindern zur Rettung geworden.
17. Kapitel
In Angst und Sorge
Es war die höchste Zeit, daß beruhigende Kunde nach Villa Daheim kam. Denn während Doktors Nesthäkchen in den rotweißgewürfelten Betten der Leuchtturm-Christel nach all der Aufregung, der Anstrengung und dem starken Grog in tiefen Schlummer gesunken war, während Peter sich damit vergnügte, den am Herd schnurrenden, schwarzen Kater aus seiner Ruhe aufzuscheuchen, war im Kinderheim die Aufregung und die Sorge um sie aufs höchste gestiegen.
»Na seid ihr alle wieder da?« scherzhaft hatte Tante Lenchen die Frage getan, als die kleinen Wattläufer vergnügt sich wieder an dem Heiderastplatz einfanden.
»Ja, natürlich,« keiner merkte, daß sie nicht vollzählig waren.
Durch das aufziehende drohende Wetter wurde bald zum Ausbruch geblasen.
»Wo ist denn Annemarie – Annemarie ist ja nicht da,« es war Gerda, welche das Fehlen der Freundin, mit der sie auf allen Wanderungen Arm in Arm zu gehen pflegte, zuerst entdeckte.
»Annemarie – Annemarie – wir brechen auf –« laut schrien es die Kinder über die Heide. Am Ende hatte sich der kleine Schelm hinter einem der Hügel versteckt.
Aber keine Annemarie kam zum Vorschein. Immer drohender wurde der Himmel, es war die allerhöchste Zeit, an den Rückweg zu denken.
»Gehen Sie bitte mit den Kindern voraus, Fräulein Mahldorf und Miß John, ich komme mit Annemarie dann nach,« ordnete Tante Lenchen an. »Gewiß hat sie sich unten am Strand beim Muschelsuchen verspätet.«
Der Sicherheit halber begann Tante Lenchen aber doch noch ihre Küken zu zählen, ob auch sonst keins fehlte. Da stellte es sich erst heraus, daß auch der Peter durch Abwesenheit glänzte. Natürlich – die beiden Unzertrennlichen bei allen Ungezogenheiten! Die wollte Tante Lenchen aber gehörig auf den Trab bringen.
Während sich die Karawane nach Wittdün zu in Bewegung setzte, eilte sie die Dünen herab zum Strande, um möglichst noch vor Ausbruch des Wetters mit den beiden kleinen Säumigen heimzukommen.
Wie ausgestorben lag der kahle Strand und das weite Watt vor ihr – nirgends eine Spur von den Gesuchten. Der jungen Dame ward es bange zumute. Die Kinder würden doch nicht zu weit gegangen sein? Konnten sie den Rückweg am Ende nicht wiederfinden? Ach Unsinn, sie hatten ja alle zusammen gespielt, wie die übrigen Zöglinge berichtet hatten.
»Annemarie – Peter – Peter – Annemarie – – – –« abwechselnd rief es Tante Lenchen mit schallender Stimme in die unermeßliche Weite hinein. Aber die, welche es hören sollten, erreichte ihre Stimme trotzalledem nicht.
»Peter