Er seufzte. »Ach, weißt du, Gerrit, in letzter Zeit endet jedes Gespräch zwischen Rabea und mir im Streit. Sie ist leicht reizbar, braust wegen jeder Kleinigkeit auf und… ich weiß auch nicht, wie ich es sagen soll. Weißt du, noch vor ein paar Wochen war sie diejenige, die keine zu feste Bindung eingehen wollte. Wenn ich mehr als dreimal pro Woche bei ihr aufgetaucht bin, dann hat sie schon gesagt, sie bräuchte mehr Freiraum. Unsere Beziehung war eigentlich nur selten so, wie ich es mir gewünscht hätte. Versteh mich nicht falsch – ich liebe Rabea, und ich möchte sie irgendwann heiraten, aber… sie ist so selbstbewußt und emanzipiert, daß es mir manchmal richtig Angst macht.«
»Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst, Stefan«, meinte Dr. Scheibler. »Immerhin bist du mit Rabea schon eine ganze Weile zusammen und kennst ihre Eigenheiten. Bisher hatte ich auch nicht den Eindruck, als würde dir das allzuviel ausmachen. Warum belastet es dich jetzt auf einmal so sehr?«
Stefan schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, Gerrit. Es ist viel mehr… Rabea hat sich so verändert. Seit zwei Wochen ungefähr ist nichts mehr so wie zuvor. Sie hat kein Verständnis mehr, wenn ich mich mit ihr nicht treffen kann, weil ich Dienst habe oder einfach zu müde bin, um noch nach München zu fahren. Vorher war das überhaupt kein Thema – ganz im Gegenteil. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, als wäre sie ganz froh, wenn ich eine Verabredung abgesagt habe. Und umgekehrt habe ich ja auch immer Verständnis, wenn sie sich aus irgendeinem Grund mit mir nicht treffen kann oder will.«
»Und du hast nie versucht, mit ihr über diese Veränderung zu sprechen?«
»Doch, aber sie streitet ab, daß sie sich verändert habe. Sie behauptet, ich würde sie nicht mehr lieben und wäre nur zu feige, um es ihr zu sagen.«
Prüfend sah Dr. Scheibler ihn an. »Ist es so, Stefan?«
Heftig schüttelte er den Kopf. »Ich liebe Rabea genauso wie am ersten Tag, das mußt du mir glauben, Gerrit.«
Dr. Scheibler spürte, daß Stefan die Wahrheit sagte. Er zögerte einen Moment, dann fragte er: »Hättest du etwas dagegen, wenn ich mal versuchen würde, mit Rabea zu sprechen?«
»Ich weiß nicht, ob das so gut wäre«, wandte Stefan leise ein. Er sah Gerrit an. »Es ist nicht so, daß ich noch eifersüchtig bin, aber… Rabea ist zur Zeit schrecklich empfindlich. Wenn sie auf diese Weise erfährt, daß ich mit dir über sie gesprochen habe… ich habe Angst, sie zu verlieren.«
»Keine Sorge, Stefan, ich habe nicht vor, mich bei diesem Gespräch wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen aufzuführen«, versprach Dr. Scheibler. Er schwieg kurz. »Vertraust du mir?«
Da mußte Stefan nicht eine Sekunde überlegen. »Ja, Gerrit, ich vertraue dir.«
Dr. Scheibler lächelte. »Dann ist es gut.« Er stand auf. »So, und jetzt gehst du schlafen.«
Auch Stefan erhob sich. »Ja, ich glaube, es wird allmählich Zeit, daß ich nach Hause komme. Papa wird sich sowieso schon Sorgen machen.«
»Irrtum, mein Junge«, entgegnete Dr. Scheibler. »Du bleibst heute nacht bei mir. Ich stelle dir mein Schlafzimmer zur Verfügung, und da wirst du mal richtig ausschlafen. Dein morgiger Dienst ist gestrichen.«
»Wolfgang wird…«, begann Stefan.
»Wolfgang wird gar nichts«, fiel Gerrit ihm ins Wort. »Er muß einsehen, daß auch ein Assistenzarzt einmal einen freien Tag braucht.«
»Ich habe meine freien Tage und…«
Wieder ließ Dr. Scheibler ihn nicht aussprechen. Wortlos nahm er ihn beim Arm, zog ihn in den Flur hinaus und vor den Spiegel.
»Da, schau dich mal an«, verlangte er. »Willst du vielleicht während des Dienstes umkippen? Und ich schwöre dir, daß das innerhalb der nächsten drei, vier Tage passiert, wenn du jetzt nicht tust, was ich sage.«
Stefan seufzte. »Aber ich kann doch sowieso nicht schlafen.«
»Das wird sich herausstellen«, meinte Gerrit, dann gab er ihm einen Schlafanzug. »Er ist dir vielleicht ein bißchen zu groß, aber im Bett sieht dich ja keiner. Wenn du umgezogen bist, bekommst du von mir ein leichtes Beruhigungsmittel, das dir das Einschlafen erleichtern wird.« Er lächelte. »Ich nehme an, daß du Tropfen einer Spritze vorziehst.«
Stefan nickte, zögerte aber noch immer, den Schlafanzug anzuziehen.
»Ich könnte zu Hause auch etwas nehmen und mich ins Bett legen«, erklärte er.
»Da habe ich dich aber nicht unter Kontrolle«, wandte Gerrit ein. »Und ich nehme nicht an, daß dein Vater etwas von deinen Schwierigkeiten mit Rabea weiß.«
Stefan seufzte wieder. »Du hast gewonnen. Aber ich muß wenigstens zu Hause anrufen und…«
»Ich werde deinem Vater Bescheid sagen. Und nun mach, daß du ins Bett kommst.«
Stefan gehorchte, dann setzte sich Gerrit zu ihm und zählte aus einer kleinen Flasche zehn Tropfen auf einen Teelöffel voll Zucker.
»Das Medikament ist leider nicht wasserlöslich«, erklärte er. »Und der Ehrlichkeit halber muß ich dir vorher sagen, daß der Zucker nicht viel am bitteren Geschmack der Tropfen ändern wird.«
Das konnte auch Stefan feststellen. Mit Todesverachtung würgte er das Medikament hinunter.
»Du bist ein Tyrann, Gerrit«, hielt er ihm danach vor. »Hast du denn keine Tabletten im Haus?«
»Doch«, antwortete Dr. Scheibler. »Aber ich will dich ja nicht mit Chemie vollstopfen. Diese Tropfen hier sind rein pflanzlich, in ihrer Wirksamkeit aber unübertroffen. Du wirst gleich merken, wie sie dich beruhigen und entspannen. Und in einer Viertelstunde schlummerst du wie ein Murmeltier.«
»Hoffentlich«, meinte Stefan leise. »Ich habe schon seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen.«
»Das wirst du jetzt alles nachholen. Morgen früh, wenn du aufwachst, wird hier eine Tasse Tee stehen. Den trinkst du, auch wenn er nicht nach deinem Geschmack ist. Und anschließend schläfst du wieder.« Er drohte Stefan mit dem Finger. »Wehe dir, wenn du dich nicht an meine Anordnungen hältst. Ich werde ganz unverhofft hier auftauchen und dich kontrollieren, verlaß dich darauf.«
Stefan nickte nur. Er war schon zu müde, um noch eine Antwort zu geben. Und wenige Minuten später fielen ihm die Augen zu.
*
Dr. Daniel erschien am nächsten Morgen früher in der Waldsee-Klinik, als es nötig gewesen wäre. Raschen Schrittes ging er in die Chirurgie hinüber und suchte den Oberarzt auf.
»Sagen Sie, Gerrit, was sollte dieser gestrige Anruf?« wollte er wissen. »Was ist mit Stefan?«
»Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müßten, Robert«, entgegnete Dr. Scheibler beruhigend. »Stefan ist nicht krank. Ich habe lediglich dafür gesorgt, daß er mal wieder ausreichend Schlaf bekommt.«
Dr. Daniel seufzte. »Das ist eine Antwort und doch wieder keine. Jetzt weiß ich nämlich genausoviel wie vorher.«
»Tut mir leid, Robert, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sie sind schon beinahe zu diskret, was derartige Dinge angeht«, meinte Dr. Daniel. »Immerhin geht es ja um meinen eigenen Sohn.«
»Trotzdem kann ich Ihnen nicht mehr sagen«, erklärte Dr. Scheibler bedauernd, dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sie entschuldigen mich bitte, Robert, aber ich muß jetzt in den OP hinunter.«
»Meine Güte, ich ja auch«, fiel es Dr. Daniel ein. Über der Sorge um Stefan hätte er den Eingriff bei Marita Fendt doch tatsächlich beinahe vergessen.
Als