»Ich habe sie für dich ausgedruckt.« McCullough wühlte sich durch einige Blätter auf seinem Schreibtisch und reichte ihr dann die Ausdrucke. Sie waren Schwarz-weiß und auf billigem Kopierpapier gedruckt. Nick warf einen Blick darauf. Die Schriftzeichen erinnerten ihn an gerade angeordnete Hühnerspuren.
Sie betrachtete die erste Seite. »Der Schriftstil stammt aus dem vierten Jahrhundert vor Christus.«
»Das würde sie in die Zeit der Eroberung des persischen Reiches durch Alexander einordnen.«
»Für eine akkurate Übersetzung werde ich etwas Zeit brauchen, aber sie sehen für mich wie Fragmente aus einem der großen Epen aus.« Sie nahm ein anderes Blatt zur Hand. »Dieser Teil hier ist allerdings anders. Er stammt aus Babylon, aus der Schatzkammer von Darius dem III.«
Mit ihren Fingern fuhr sie die Gravierungen ab. »Es handelt sich dabei um eine Art Buchführung oder eine Inventarliste. Darius besaß unglaubliche Reichtümer. Alexander bezahlte seine Truppen damit.«
»Was wäre das heute wert?« Nick war neugierig.
»Eine Menge.« Sie blätterte weiter. »Mal sehen … 100.000 Talent in Gold und Silber.«
»Was ist ein Talent?«
»So bestimmten sie damals den Wert ihrer Münzen. Nach Gewicht. Ein Talent sind etwa fünfundzwanzig Liter.«
Sie betrachtete eine andere Seite. »Wer immer diese Aufzeichnungen verfasst hat, ging dabei sehr detailliert zu Werke. Das hier ist wirklich interessant. Ein goldenes Gefäß oder eine Urne, zwei Ellen hoch, versiegelt, verziert mit der Gravur eines schwarzen Pferdes und einer Inschrift, die besagt, dass diese Urne Demeter Erinnys Fluch enthält.«
Nick öffnete den Mund, um etwas zu fragen, aber Selena kam ihm zuvor.
»Eine Elle ist etwas über einen Meter lang.«
»Das war es nicht, was ich wissen wollte. Wer ist Demeter?«
»Demeter ist die Göttin der Fruchtbarkeit und der Ernte.«
Sie war jetzt an der letzten Seite angelangt. »Ich muss diese Ausdrucke näher studieren, aber es hat den Anschein, als hätte Alexander die Urne von jemandem nach Griechenland bringen lassen, zusammen mit einigen Schätzen. Ich frage mich, ob davon noch etwas existiert.«
»Zweieinhalb Millionen Liter an Gold und Silber und dazu noch ein großer goldener Pott?« Nick sah sie an. »Wenn es diese Dinge noch irgendwo gibt und Campbell davon wusste, ist das bestimmt ein Grund, für den einige Leute töten würden.«
McCullough schien sich bei diesem Thema äußerst unwohl zu fühlen. Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach sie. Ein Student öffnete die Tür.
»Entschuldigen Sie bitte, Professor, aber das hier wurde soeben für Sie abgegeben.« In seiner Hand hielt er eine Eilsendung.
»Danke, William.« McCullough nahm das Paket entgegen und stellte es zu dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch.
»Selena, würdest du diese Kopien bitte mitnehmen und sie für mich übersetzen? Und es aufschreiben?«
»Es wäre mir eine Freude.« Sie schob die Ausdrucke in die Tasche ihres Jacketts. Dabei fiel McCullough die Glock in dem Holster unter ihrem maßgeschneiderten Jackett auf.
»Du trägst eine Waffe?« Die bloße Tatsache schien ihn zu schockieren.
»Ich bin jetzt so eine Art Bundesagentin, Kevin. Ich übersetze gewisse Dinge für die Regierung, und sie bestehen nun mal darauf, dass ich sie trage. Ich bin mir aber nicht sicher, was ich damit tun soll.«
Nick versuchte, ernst zu bleiben.
»Nun …«, begann McCullough und stand auf. »Ich muss mich jetzt für meine Nachmittagsvorlesung vorbereiten. Es war schön, dich wiedergesehen zu haben.«
»Ich sollte die Übersetzung in ein oder zwei Tagen fertig haben. Wir werden aber viel Kaffee brauchen.« Sie machte eine kurze Pause. »Kevin, ich denke, es wäre klug, wenn du diese Sache vorerst für dich behältst. Nick hat recht. Es könnte etwas damit zu tun haben, weshalb dein Freund ermordet wurde.«
»Ja, ich verstehe. Auf Wiedersehen, Mr. Carter.«
Als sie gingen, warf Nick noch einen letzten Blick zurück. McCullough wirkte wie benommen, schob die Unterlagen auf seinem Tisch planlos hin und her und suchte nach den Notizen für seine Vorlesung.
Gemeinsam traten sie jetzt aus der Healy Hall und blieben vor einem großen Springbrunnen stehen. Nach Tagen voller grauer Wolken und Nieselregen war der Himmel über ihnen endlich mal wieder klar und blau.
»Es schien McCullough nicht zu gefallen, dass ich erwähnt habe, dass jemand für diesen Schatz auch töten würde.«
»Er ist ein Akademiker, Nick.«
»Wie kriegt er bei dem Durcheinander da oben denn eigentlich überhaupt irgendetwas auf die Reihe?«
Selena wollte gerade etwas darauf antworten, als der Himmel über ihnen plötzlich mit einem Donnerschlag detonierte. Die Druckwelle warf sie zu Boden. Donner grollte über sie hinweg, auf den Potomac zu. Trümmer, Gesteinsbrocken, schwelendes Holz und Teile des Mauerwerks regneten auf den Rasen, den Parkplatz und die abgestellten Fahrzeuge hinunter. Ein Schwarm loser Blätter flatterte zu ihnen hinab.
»Grundgütiger.« Nick stand auf und half Selena auf die Beine. Ihre Knie waren zerschrammt und bluteten. Schreie und Rufe drangen aus dem Gebäude.
Ein großer Teil der Außenwand im vierten Stock fehlte plötzlich. Schwarzer Rauch quoll aus dem Loch. Dahinter, in der Finsternis, sah man gelbe und orangefarbene Flammen züngeln.
»Genau dort befindet sich Kevins Büro!«
»Jetzt nicht mehr.« Nick sog tief die Luft ein. »Riechst du das? Der typische Geruch von Semtex. Das Päckchen, das er gerade bekam, war eine Bombe.«
»Wieso?«
»Vielleicht wegen der Nachricht, von der er uns erzählt hat. Irgendjemand tötete seinen Freund, und nun haben sie auch ihn umgebracht. Was sollte sonst der Grund sein?«
Sie tastete nach ihrer Jackentasche und den Kopien darin. »Um ein Haar hätte es uns auch erwischt.«
»Ja, hat es aber nicht.«
Sie wirkte auf einmal untröstlich. »Nick, Kevin hatte eine Frau und drei erwachsene Kinder. Er war ein netter Mann. Ich kann es nicht glauben. Was ist an diesen verdammten Tafeln denn bloß so wichtig, dass ihn jemand dafür umbringen würde?«
»Ich denke, das werden wir herausfinden, wenn du sie übersetzt hast. Das mit deinem Freund tut mir sehr leid.«
Selena sah zu den Rauchwolken hinauf, die aus dem vierten Stockwerk emporstiegen. Menschen strömten in Panik aus dem Gebäude. In der Ferne waren Sirenen zu hören.
»Was jetzt?«, fragte sie.
»Wir kehren zum PROJECT zurück, bevor die Cops hier eintrudeln.«
»Sollten wir ihnen denn nicht von dem Paket erzählen?«
»Die brauchen uns nicht, um das herauszufinden. Aber wir müssen uns dringend mit Harker unterhalten.«
Sie stiegen in Selenas Mercedes. Ein Mann in einem verbeulten weißen Pick-up, der zwei Reihen hinter ihnen parkte, sah ihnen hinterher. Er notierte sich die Zeit und griff dann nach seinem Handy.
Kapitel 3
PROJECT-Direktorin Elizabeth Harker war eine kleine Frau. Sie war stets in Schwarz und Weiß gekleidet. Heute trug sie einen komplett schwarzen Leinenanzug mit einem weißen Schal um ihren Hals. Ihr Anzug passte farblich zu ihrem rabenschwarzen Haar, das kunstfertig geschnitten war, um ihre feinen Gesichtszüge geschickt zu umrahmen. Ihre smaragdgrünen Augen waren groß und katzenartig. Sie besaß milchig-weiße Haut, kleine Ohren und eine schlanke Figur, was sie wie eine Elfe oder