Wohin sie dieses neue Leben noch führen würde, wusste sie nicht.
Selena beugte sich über den schluchzenden Mann, der von ihr wegzukriechen versuchte. Sie legte ihren Daumen auf eines seiner Nervenzentren und drückte so lange darauf, bis er bewusstlos wurde. Ein Akt der Gnade. Nun war es wieder still in ihrem Zimmer. Irgendwo aus dem Hintergrund hörte sie ihren Namen, eine blechern klingende Stimme, weit entfernt.
Das Telefon! Es lag auf dem Teppich. Sie lief zu ihm, beugte sich hinunter und hob es auf. Sie keuchte und ihre Stirn schmerzte. Etwas Blut rann aus ihrer Nase. Sie wischte es sich mit dem Handrücken ab.
»Selena!«, schrie Nick.
»Alles in Ordnung.« Sie trat zu dem toten Mann hinüber. »Ich schätze, der Olivenhandel ist auch nicht mehr das, was er mal war.«
Kapitel 10
Nick landete sechzehn Stunden nach Selenas Anruf in Thessaloniki. Der Flug war offiziell angemeldet und mit den Griechen abgesprochen worden. Nick gab nicht vor, jemand anderes zu sein. Für Selena hatte er eine Glock .40 im Gepäck. Seine eigene Heckler&Koch ruhte in einem Schulterholster unter seinem Jackett.
Als er landete, war es Sonntagmorgen. Der Himmel war bewölkt und hier und da stahlen sich ein paar Sonnenstrahlen durch die dahinjagenden Wolken. Es roch nach Regen.
Vor dem Hotel wartete ein weißes Polizeiauto mit blauen Streifen. Ein gelangweilter Polizist stand neben dem Wagen und rauchte gerade eine Zigarette. Er beobachtete Nick, als dieser das Hotel betrat.
Selena öffnete ihm die Zimmertür. Ihre Stirn war rot und angeschwollen und um ihre blauen Augen herum zeugten rote Augenränder von Ermüdung. Doch sie lächelte. Er spürte, wie etwas in ihm auf und nieder sprang. Hinter ihr stand ein kleiner, dunkelhäutiger Mann am Fenster.
»Geht es dir gut?«
Sie nickte. »Das ist Chefinspektor Giorgos Demetrios von der Polizei. Wir haben uns gerade unterhalten.«
Sie stellte nun Nick vor.
Demetrios war etwa einen Meter siebzig groß und wog um die hundertvierzig Pfund. Er trug zivile Kleidung, einen braunen, nichtssagenden Anzug. Seine Schuhe waren schwarz und glanzlos. Auf seiner Krawatte waren Flecken. Sein Haar war kurz und gelockt und ließ erste graue Haare erkennen. Er trug eine ziemliche Wampe vor sich her und hätte außerdem eine Rasur benötigt. Nick schätzte ihn auf fünfundfünfzig Jahre. Dunkle Augen musterten ihn mit einem abschätzenden Blick, so wie er irgendwie allen Polizisten auf der ganzen Welt zu eigen schien. Er wirkte verärgert. An seinem Gürtel trug Demetrios eine Smith&Wesson 910.
Chefinspektor. In Anbetracht seines Alters war das nicht viel. Als besserer Streifenpolizist war er vergleichbar beim Rang eines Oberleutnants beim Militär stecken geblieben. Demetrios würde die Karriereleiter bestimmt nicht mehr weiter hinaufklettern.
Selena hatte einen der Angreifer umgebracht. Das würde die Dinge natürlich verkomplizieren.
»Carter«, begrüßte ihn Demetrios in passablem Englisch. »Ich erinnere mich an Sie. Aus den Filmen über Jerusalem, mit ihrem Präsidenten.«
Verdammt fluchte Nick innerlich, die Jerusalem-Sache schon wieder. Diese Sache hatte seine Tarnung auffliegen lassen.
Demetrios kam gleich zur Sache. »Ich würde gerne wissen, wieso Sie hier sind und wieso Doktor Connor angegriffen wurde … und wieso Sie bewaffnet sind.« Er deutete auf die Wölbung unter Nicks grauem Jackett. »Fremden ist es hier nicht gestattet, Waffen zu tragen. Nicht ohne offizielle Genehmigung.«
»Ich habe eine Genehmigung, Chefinspektor. Selena und ich arbeiten für unsere Regierung, als eine Art frei bewegliches Untersuchungsteam. Wir beschäftigen uns mit Dingen, die den Interessen unseres Landes gefährlich werden könnten. In diesem Fall sogar internationalen Interessen, darunter die von Griechenland.«
Sie benötigten so viel Hilfe, wie sie nur kriegen konnten, deshalb beschloss er, Demetrios weitestgehend einzuweihen, mit Ausnahme der goldenen Urne. Dieser Polizist konnte ihnen nämlich einigen Ärger bereiten, wenn er es wollte, und das würde die Dinge nur unnötig verzögern.
»Wir glauben, dass dieser Zwischenfall in direktem Zusammenhang mit drei Morden in den Vereinigten Staaten steht. Es geht dabei es um historische Artefakte.«
»Artefakte?«
»Reichtümer aus den Tagen Alexanders, die er aus Persien nach Hause geschickt hat.«
»Und Ihre Ermittlungen haben Sie hierher geführt, nach Mazedonien?«
»Ja.«
Er warf Selena einen zweifelnden Blick zu. »Der Mann, den Sie umgebracht haben, trug Ihr Bild in der Tasche. Letzte Nacht erreichte mich eine Mitteilung von Interpol. Diese Kriminellen, die Sie angegriffen haben, waren Mitglieder einer mächtigen Organisation mit Sitz in Moskau. Wieso sollten diese Leute ein Foto von Ihnen besitzen?«
Chefinspektor Demetrios lief zu dem Fenster hinüber und betrachtete scheinbar interessiert die Aussicht. »Sie müssen wohl der Ansicht gewesen sein, dass Sie fähig dazu sind, diese fehlenden Schätze zu finden. Falls es diese überhaupt gibt. Über welchen Wert sprechen wir hier denn, so in etwa?«, fragte er beiläufig.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Nick. »Vielleicht über eine ganze Menge. Einer von Alexanders Cousins hat offenbar einen Teil davon hier nach Dion gebracht. Ich bezweifle allerdings, dass noch etwas davon existiert. Aber jemand scheint da wohl anderer Meinung zu sein.«
»Alles, was mit Alexander zu tun hat, wäre für mein Land von unschätzbarem historischem Wert. Ich muss deshalb darauf bestehen, dass Sie alle Informationen, die Sie besitzen, mit mir teilen.« Demetrios Stimme hatte nun einen autoritären Tonfall angenommen.
Nick hob die Hände. »Wir brauchen Ihre Hilfe ebenso, Chefinspektor. Wir sind Ermittler, keine Schatzjäger. Wir wollen die Drahtzieher hinter diesen Morden finden, nichts weiter.«
Er konnte sehen, dass Demetrios nun angestrengt nachdachte. Das Aufspüren unbekannter Relikte Alexanders könnte seine Karriere retten. Ein gewisses Maß an Eigenmotivation konnte einen guten Verbündeten ausmachen, und Gier konnte ebenfalls eine gute Motivation sein. Nick vermutete, dass Demetrios sich mindestens so sehr für das Gold interessierte wie für die Geschichte seines Landes.
Selena erzählte ihm daraufhin von dem Grabmal. Demetrios erklärte sich bereit, eine Besichtigung der Gruft für Montag zu arrangieren. Er öffnete die Tür, hielt dann aber noch einmal kurz inne.
»Lassen Sie mich mal eines klarstellen, Carter. Ich habe hier das Sagen. Sie werden nichts auf eigene Faust unternehmen.« Nun klang er schon beinahe feindselig. »Sie sind Fremde in meinem Land. Ich werde als Allererstes Erkundigungen darüber einziehen, wieso Sie berechtigt sind, eine Waffe zu tragen. Sie werden dieses Hotel nicht ohne eine Eskorte verlassen und Sie werden nicht ohne meine ausdrückliche Genehmigung handeln. Haben Sie das verstanden?«
»Natürlich.« So viel also zu dem Versuch, Verbündete zu finden. Vielleicht musste er doch noch an seinen diplomatischen Fähigkeiten arbeiten.
Demetrios ging hinaus. Hinter ihm schloss sich die Tür.
»Geht doch nichts über einen warmherzigen Empfang«, sagte Nick trocken.
»Wieso zum Henker besaßen diese Typen ein Foto von mir?«, sprudelte es aus ihr heraus. Unruhig schritt Selena das Zimmer auf und ab. Sie war vollkommen aufgelöst.
»Das werden wir herausfinden. Lass uns aber zuerst runter ins Restaurant gehen. Mit leerem Magen denkt es sich nicht gut.«
»Du bist