ALTE WUNDEN (Black Shuck). Ian Graham. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ian Graham
Издательство: Bookwire
Серия: Black Shuck
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351257
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hatten. Ein Gefängnis war es seitdem geblieben, wozu sich die nahezu uneinnehmbare mittelalterliche Architektur auch hervorragend eignete, wie Turow fand.

      »Kto tam?«, blaffte einer der Wachmänner auf Russisch, als die beiden vortraten. »Wer ist da?«

      »Zam nachalnika Antonin Turow«, antwortete der stellvertretende Direktor zackig. »Pozvol'te mne proiti!« – »Lassen Sie mich rein!«

      Die Wachen taxierten den Uniformträger und nahmen Haltung an, bevor sie erwiderten. »Zu Befehl, Direktor!«

      »Macht das Tor auf«, rief der eine zu einem Wachturm hinauf.

      Ein Alarmsignal brummte los, als ein Druckluftmechanismus in Gang gesetzt und die beiden Torflügel langsam auseinandergezogen wurden. Als Turow das Straflager betrat, stellten sich zwei weitere Wächter vor ihn, die in einem Häuschen neben einem der Türme gesessen hatten. Dichter, weißer Rauch quoll aus dem Blechschornstein des Gebäudes, und die Luft roch nach verbranntem Holz.

      »Ich bin Leutnant Rostislaw Kutzow. Wie dürfen wir Ihnen helfen, Kamerad Vizedirektor?«, fragte der Wachleiter beim Näherkommen und stand schließlich stramm. Das Tor glitt quietschend hinter Turow zu.

      Er richtete seinen gedrungenen Leib auf und spannte die Schultern an. »Bringen Sie mich zum Aufseher.«

      »Sehr wohl, Direktor«, entgegnete der Leutnant und salutierte, bevor er sich umdrehte und auf eine Gruppe zweistöckiger Gebäude zuging, die unscheinbar wirkten und dank ihres weißen Putzes mit der Umgebung verschwammen. Nach fast 100 Jahren, in denen die Anlage die schlimmsten Verbrecher des Mutterlandes beherbergt hatte, war jeglicher Hinweis auf ihren einst frommen Zweck getilgt. Verräter, Deserteure, Spione und Nazis – sie alle hatten hier eingesessen und innerhalb dieser Mauern den Tod gefunden, woraufhin ihre Gebeine in leidlich tiefen Gräbern auf Nachbarinseln beigesetzt worden waren. Seit Ende des 20. Jahrhunderts war das Gefängnis, das die Russen Pyatak nannten, ausschließlich Häftlingen vorbehalten, die sich mit ihren Vergehen ein Todesurteil eingehandelt hatten.

      Wer einmal auf der Feuerinsel landete, verließ sie nicht mehr, nicht einmal nach der Verhängung seiner Strafe. Dies sollte sich heute Abend allerdings ändern. Gegen einen Betrag von einer Million Euro wollte Antonin Turow, einer von sechs stellvertretenden Direktoren des Staatsgefängnisses, dafür sorgen, dass ein Insasse vom Gelände entkam und in der umgebenden Wildnis verschwand.

      Der Leutnant vor ihm löste ein Schlüsselbund von seinem Gürtel und trat vor eine Metalltür. Als er hörte, dass sie von innen aufgeschlossen wurde, hielt er inne. Kurz darauf trat ein Mann mit strenger Miene und sorgfältig gebügelter Uniform heraus. Der Leutnant schlug unumwunden die Hacken zusammen, salutierte und blieb dann völlig reglos stehen. Unterdessen betrachtete der Mann ihn, bevor sein Blick zu Turow wanderte. Ein wissender Ausdruck huschte über sein Gesicht, und er nickte kurz. Er war der Gefängnisaufseher; seine Komplizenschaft hatte lediglich 25.000 Euro gekostet.

      »Oberst Witalj Kuptschenko, richtig?«, fragte Turow.

      »Sieh zu, dass du Land gewinnst«, zischte der Aufseher dem Leutnant zu, der sich trollte, ehe sich der Atemhauch seines Vorgesetzten in der kalten Luft aufgelöst hatte. »Wer soll ich sonst sein?« Damit drehte er sich wieder zur Metalltür um und ging zurück ins Gebäude.

      Turow beschloss, vorerst darüber hinwegzusehen, dass der Aufseher ihn als ranghöhere Person nicht gebührend zur Kenntnis genommen hatte, und folgte ihm ins Gefängnis.

      Als er drinnen war, warf der Mann die Tür zu und sperrte wieder ab. Turows Augen fingen sofort zu tränen an, denn der Gestank war überwältigend. Bei dem, was da in seiner Nase kitzelte, konnte es sich nur um eine Mischung aus Kot, Urin und dem Geruch von menschlichem Zerfall handeln. Er zog seine Pelzmütze aus und hielt sie vor sein Gesicht, um sich nicht zu übergeben, womit er dem Schweißodeur seines Kopfes gegenüber den Düften des Gefängnisses den Vorzug gab. Der Leutnant wirkte ungerührt. Er ging Turow voraus und führte ihn tiefer in die Anlage.

      Der Boden bestand aus unbehandeltem Holz, das unangenehm knarrte, wenn die beiden stämmigen Männer auftraten, die Wandverkleidung aus rauem Stuckgips, der bis auf halbe Höhe grün und darüber weiß gestrichen war, obwohl er augenscheinlich schon seit Jahren keine frische Farbe gesehen hatte, denn an vielen Stellen lag das Holz darunter blank, wo der Baustoff abgebröckelt war. Turow konnte sich durchaus vorstellen, dass man dort Gefangene mit den Köpfen gegen die Mauer geschlagen hatte; in Russlands Strafvollzugsanstalten stand Brutalität an der Tagesordnung, besonders so weit entfernt von Moskaus Aufsicht.

      »Ich muss zugeben, Kamerad Direktor, dass ich meine Zweifel hatte, als Sie mir mitteilten, wen Sie wollten. Ich kann mir nicht vorstellen, wer Verwendung für dieses Tier finden soll«, bemerkte der Aufseher, während sie durch eine weitere Tür gingen. Der Knall, als er sie hinter sich zufallen ließ, hallte über den leeren Flur.

      »Ich habe keine Verwendung für ihn. Sehr wahrscheinlich wird man ihn jagen wie Freiwild, aber das ist nicht unser Problem.«

      »Nein, Kamerad Direktor«, stimmte der Aufseher zu und reichte Turow eine olivgrüne Mappe.

      Von nun an gingen sie schweigend weiter durch das Gewirr von Korridoren in der Haftanstalt. Darin reihten sich zu beiden Seiten Metalltüren, die Eingänge in Zellen. Eine jede verfügte über einen Schlitz von drei mal sechs Zoll, durch den die Sträflinge ihre Unterarme schieben mussten, um sich Handschellen anlegen zu lassen. Jetzt, für die Nacht, waren alle zugeschoben. Gelegentlich kamen die Männer an einem größeren offenen Raum vorbei, in dem gelangweilte Wachleute vor Fernsehgeräten mit verrauschtem Empfang saßen, die nicht größer waren als Turows offene Hand. Sie alle sprangen ruckartig auf und salutierten, als die Oberen passierten.

      Nachdem sie eine Serpentinentreppe hinuntergestiegen waren, die in den Keller der Anlage führte, und weitere 50 Yards zurückgelegt hatten, trat der Aufseher gegen eine weiße Tür, schloss den Schiebeschlitz auf und blaffte: »Aufstehen, Abschaum! Du hast Besuch!«

      Ein paar Sekunden vergingen, dann steckte der Insasse seine Hände durch die Öffnung. Der Aufseher löste Handschellen von seinem Gürtel, legte sie um die Handgelenke des Mannes und ließ die Bügel einrasten, bevor er die schwere Tür aufsperrte und nach außen öffnete. Aus der Dunkelheit der Zelle trat nun ein dürrer Mann mit dunkler Hautfarbe. Er schien haarlos zu sein und trug einen gestreiften Overall mit entsprechender Mütze auf seiner Glatze. Als Turow in anschaute, war ihm schleierhaft, warum irgendjemand nach so einem Menschen fragte, doch er hatte einen eindeutigen Auftrag erhalten. Diejenigen, die ihn entlohnten, wollten den tschetschenischen Kindermörder Ruslan Baktayew.

      Turow wickelte das Band ab, mit dem die olivgrüne Mappe verschlossen war, und schlug sie auf. Darin lag eine Akte mit Fahndungsfoto. Statt den Inhalt zu lesen, sah er sich das Bild genau an und glich es mit Baktayews Gesicht ab. Es war kaum zu glauben, dass er denselben Mann vor sich stehen hatte. Von acht Jahren in der realen Hölle der Feuerinsel blieb man nicht unberührt. Obwohl der Verbrecher anscheinend noch nie beleibt gewesen war, ließen sich merkliche Veränderungen an seinem Gesicht ausmachen; er hatte teigige Haut und stierte hohläugig – offensichtliche Anzeichen von Mangelernährung. Die Kleidung hing an seinem Körper wie Lumpen von einer Vogelscheuche. Als der Aufseher sein Kinn nach oben drückte, konnte man auf Russisch eintätowiert den Schriftzug ›Hier schneiden‹ an seiner Kehle lesen. Dies war der Mann, den Turow gesucht hatte. Er nickte dem Aufseher zur Bestätigung zu.

      Dieser befahl: »Stell dich hin, wie du es gelernt hast.«

      Baktayew wandte sich schweigend ab und bückte sich.

      Der Aufseher packte seine gefesselten Hände, zog sie vom Körper weg nach oben und zwang ihn so zu einer sogenannten Belastungshaltung. Während er den Vornübergebeugten den ganzen Weg die Treppe hinauf stieß, erreichten sie die Tür, durch die sie hinuntergegangen waren. Turow folgte ihnen in geringem Abstand. Statt aber durch die Tür zu gehen, drängte der Aufseher Baktayew in einen Nebenraum, in dem zwei Klappstühle aus Metall an einem einfachen Schreibtisch – Staatseigentum – mit Telefon standen. Auf einem musste sich der Häftling niederlassen, woraufhin er die beiden russischen Offiziere mit vor Hass funkelnden Augen anstarrte.

      »Heute