»Einen Jager? Geh, das glaubst doch selber net!« stieß der Wirt verwundert hervor.
Der Blick des Söllner wurde starr. »Einen Jager?« wiederholte er.
Der Wirt nickte bestätigend, während er weiterhin Gläserr spülte. Da sie sich allein in der Gaststube befanden, konnte er ungeniert berichten, was er wußte: »Lukas ist der Nachfolger vom Lahner-Joseph – ein guter Jager und freundlicher Bursch. Er hat sich sogar mit der ruppigen Apollonia angefreundet, aber leider in letzter Zeit Pech gehabt. In seinem Revier geht einer um, der ihm was Böses will. Lukas ist vor seine vorgesetzte Behörde zitiert worden. Es heißt, er wird ein Vierteljahr fortbleiben.«
»Und derweil bleibt alles ohne Aufsicht?« fragte er.
»Nein, der Schaidhammer vertritt ihn. Aber auch er scheint Ärger zu haben – so wie Lukas…« Der Wirt erzählte, was er von Gästen erfahren hatte. Einmal gab der Söllner einen heiseren Laut von sich, was der Wirt jedoch im Eifer des Berichtens überhörte.
Das waren Neuigkeiten, die beim Söllner einer Bombe gleich einschlugen. Er mußte sich ein Schnapserl bestellen und ein zweites dazu. Scheinbar ruhig verabschiedete er sich dann. Der Wirt sah ihm zufrieden nach. Er glaubte, seinen seltenen Gast aufs Beste unterhalten und ihn aus dem Kummer um Leo gerissen zu haben.
Der Söllner jedoch trat schwer atmend ins Freie und stellte fest, daß es bereits dunkel geworden war. Er wählte einen abkürzenden Weg durch die Klamm. Als der Wald zur Rechten ein Ende nahm, wollte der Söllner steil hinaufgehen, um Zeit zu gewinnen. Er blieb stehen, als er das Knacken von Ästen und dumpfe Schritte hörte.
Warum er sofort an Gefahr dachte, hätte er nicht erklären können. Sein müder Körper straffte sich; sein Blick wurde wachsam. Im Schatten der Klamm glaubte er sicherer zu sein als auf dem Hang.
Doch es durchströmte ihn eisig, als sich nun vor dem helleren Hintergrund des Himmels droben eine Gestalt abzeichnete. Es war ein Mann – mit einer Flint!
Ein Verdacht durchzuckte den Söllner, daß er erzitterte. Es ging ihm durch und durch, als im selben Moment von oben her ein schauriger Lacher ertönte und dreifach widerhallte.
Der Söllner war nie feige gewesen. Er stürmte los, als müßte er nicht sein Leben, sondern das eines anderen retten. Derweil verlor Hannes Bertrammer ihn kurz aus den Augen und schoß ins Leere. Ein Fluch folgte, den der Söllner schon aus der Nähe hörte. Er pirschte sich lautlos heran, wie von einem jähen Jagdfieber erfüllt.
Der Bertrammer starrte wutentbrannt in die Tiefe. Zu spät schnellte er herum, als der Söllner ihn von hinten ansprang und mit beiden Armen umklammerte. Wortlos begannen sie zu kämpfen. Nur ihr Keuchen war zu hören und das Knacken der Gelenke. Dann gab es einen Rumpler, und sie lagen umklammert auf dem Boden.
Es war ein langer Kampf, bei dem sie beide etwas abbekamen. Doch der Bertrammer war jünger und wütender. Es gelang ihm, sich von den Händen zu befreien, die sich würgend um seinen Hals gelegt hatten. Er sprang auf die Füße und erschrak, als der Söllner das gleiche tat, gegen ihn prallte und die Hände in seiner schönen neuen Joppe verkrallte.
Im Schatten der Felswände und Bäume sahen sie einander nur schemenhaft. Der Söllner erkannte den Mann nicht und hatte dennoch das Gefühl einer merkwürdigen Vertrautheit.
»Wer bist?!« fragte er mit keuchendem Atem.
Hannes Bertrammer schlug wie von Sinnen zu, ergriff sein Gewehr, jagte in Richtung Wald davon. Der Söllner war erneut zu Boden gestürzt und sekundenlang wie betäubt. Als er sich aufrichtete und stöhnte, spürte er einen Gegenstand in seiner rechten Hand. Es schien sich um einen Knopf zu handeln, den er sich zu Hause gut ansehen wollte.
Doch erst einmal wurde er von seiner entsetzten Tochter und deren Fragen empfangen. Er gab nur widerwillig Auskunft und verschwieg auch, weshalb er bei jenem redseligen Wirt zugekehrt war. Still ließ er sich von Anita versorgen. Über ihr Jammern seiner paar Kratzer wegen lächelte er matt. Er blickte immer wieder auf den Knopf, den er dem unbekannten Übeltäter abgerissen hatte. Es war ein offensichtlich neuer, sehr schöner Hornknopf, an dem noch Reste eines dunkelgrünen Fadens hafteten.
Dieser Knopf, dachte er, wird mich zu dem Lump führen. Und die neue Hoffnung überwog die Schmerzen der Verletzungen, die er bei dem Kampf davongetragen hatte.
Dem Söllner fiel in der Nacht schon das Atmen schwer, und seine Rippen schmerzten sehr. Er suchte am nächsten Tag den Dorfarzt auf, ohne seiner Tochter etwas zu sagen.
»Wo hast du dir die Prellungen geholt, Söllner?« erkundigte sich der Doktor, nachdem er ihn untersucht hatte.
»Bin gestern bei der Hofarbeit unglücklich gestürzt. Man wird halt alt«, antwortete der Bauer etwas verlegen und wich dem scharfen Blick aus.
»Söllner – Söllner«, mahnte der Arzt, »du solltest auf deine alten Tage net zu schwindeln anfangen, sondern zugeben, daß du zu tief ins Glas geschaut hast und aus dem Gleichgewicht geraten bist!«
Der Bauer lächelte, war beruhigt, daß des Doktors Verdacht in eine solche Richtung ging. Er ließ ihn auch in dem Glauben und versprach, demnächst im Trinken mäßiger zu sein. Dann holte er sich die verschriebene Salbe und schmerzstillenden Tabletten aus der Apotheke am Kirchplatz. Hier erkundigte er sich auch, wo er Gips kriegen konnte, und wurde ein paar Meter weiter in die Seitengasse geschickt. Im Laden erregte es große Verwunderung, als er Gips verlangte. Doch er behielt sein Wissen und seine Pläne für sich.
Während er später so tat, als lasse er sich mit dem Heimgehen viel Zeit, behielt er die Gegend scharf im Auge. Er wollte nämlich dorthin zurückkehren, wo er gestern mit dem Unbekannten gerungen und sich Wunden und Prellungen zugezogen hatte. Sogar den Knopf hatte er bei sich, obwohl er ahnte, daß er keinen zweiten finden würde.
Der Platz war aufgewühlt, als hätte eine Herde darauf herumgestampft. Der Söllner entdeckte deutlich Abdrücke von Schuhen, die nicht ihm gehörten, und füllte zwei davon mit der Gipsmasse. Das Wasser dazu holte er vom nahen Quell. Dann wartete er geduldig, bis er die Abdrücke mit einem Teil Erdreich herausheben und vorsichtig in den mitgebrachten Karton legen konnte. Inzwischen hatte er mal wieder Pfeife geraucht und seine Gedanken zu ordnen versucht. Er fühlte sich seltsam beschwingt, weil er jetzt zwei Hinweise auf den noch nicht bekannten Täter besaß, die ihn überführen konnten.
Unterdessen war Anita auch nicht müßig. Sie zweifelte nicht mehr daran, daß derjenige, der Leo erschossen hatte, nun ihrem Vater nach dem Leben trachtete. Es war für sie furchtbar, den Grund dazu nicht zu kennen. Und noch schlimmer war die Erinnerung daran, wie erschüttert und mitgenommen ihr Vater gestern abend gewesen war. Um ihm zu helfen, wollte sie über ihren eigenen Schatten springen, indem sie den Bertrammer aufsuchte. Er war der nächste Nachbar und würde vielleicht einen Rat wissen. Das wollte sie schnell hinter sich bringen, denn es kostete sie einige Überwindung, den Bertrammer um Hilfe zu bitten.
Kaum war ihr Vater vom Hof gegangen, schloß sie alles ab und rannte die Wiese hinunter, die ihr Anwesen von dem großen Besitz des Bertrammer trennte. Sie kletterte über den Zaun, durchquerte den Obstgarten des Bertrammer und erreichte dessen frisch gekalktes Wohnhaus von der Rückseite her.
An diesem windstillen sonnigen Oktobertag standen ein paar Fenster offen. Anita blieb erschrocken stehen, als aus einem die zornige Stimme des Bertrammer klang.
»Schlamperei!« schrie er. »Wieso hast das net sofort in Ordnung gebracht?«
»Weil – weil – weil’s im Dorf keinen Ersatz dafür gibt«, antwortete mit Schluchzen die Magd Leni, deren Stimme Anita sofort erkannte.
»Zum Donnerwetter, dann besorg’s in der Kreisstadt und bring mir gleich ein halbes Dutzend davon mit. Du bist so blöd, daß es dir eigentlich weh tun müßt!«
So laut hatte Anita ihn noch nie brüllen hören. Obwohl ihr das Furcht einflößte, ging sie entschlossen weiter und blickte durchs offene Fenster in den Raum, den sich der vielbeschäftigte Bertrammer als Büro eingerichtet hatte.
Sie sah die Magd Leni mit verweintem Gesicht und zitternd an der Tür