Und dann stand das kleine Mädchen lange am Fenster, schaute hinauf zum Himmel, blickte hinaus in den verödeten Garten.
»Oh, du schöne, große Welt, die ich sehen darf!«
Der Frühwinter war in diesem Jahre so schön, daß Professor Bender seinem Pflegetöchterchen Pommerle den Vorschlag machte, am kommenden Sonntag nicht daheim am Kaffeetische zu sitzen; es würde Sabine sicherlich eine große Freude sein, wenn man mit ihr und Jule ein wenig durchs Hirschberger Tal wandere. Noch sei kein Schnee gefallen, es ließe sich also trefflich marschieren.
»O ja«, sagte Pommerle strahlend, »das wird ihr Freude machen. Ach, Onkel, wenn heute schon Weihnachten wäre, wünschte ich mir was zum Sonntag.«
»Was wünschtest du dir?«
»Daß wir mit der Sabine zum Harfen-Karle gingen. Weißt du, der Harfen-Karle kann so schöne Lieder singen. Er soll auch mal der Sabine etwas vorsingen. Irgendein Lied, über das sie schrecklich lachen muß und sich freuen kann.«
»Wenn es am Sonntag schön ist, können wir ja einmal den Harfen-Karle besuchen. Ich will schon lange einmal hinaus zu ihm gehen.«
»Es ist auch nur zu deinem Besten, lieber Onkel. Der Harfen-Karle hat lauter Kasten mit Kräutern, über die du viel schreiben kannst, und dann verdienst du wieder massenhaft Geld damit. Ja, ja, komm nur mit mir zum Harfen-Karle.«
»So wollen wir es Meister Reichardt wissen lassen, daß wir schon am Sonntag vormittag loswandern wollen. Früh gegen neun Uhr holst du die Sabine ab, wenn es nicht regnet. Und der Jule geht auch mit.«
Während der nächsten zwei Tage schaute das Kind gar häufig zum Himmel hinauf. Als es aber am Sonntag morgen schön und trocken war, sprang Pommerle in aller Frühe aus den Federn und eilte zum Bett des Onkels.
»Heute geht es zum Harfen-Karle. Ich hole gleich nachher die Sabine und den Jule!«
Bereits um neun Uhr war Pommerle bei Meister Reichardt. Sabine kam dem Kinde freudestrahlend entgegen.
»Ach, wie freue ich mich auf den Spaziergang, es wird wunderschön werden!«
Auch der Jule stellte sich pünktlich ein. Pommerle faßte die Blinde an der Hand, der Jule mußte an Sabines anderer Seite gehen, und dann ging es dem Hause des Professors zu.
Pommerles Herzchen klopfte wie ein Hammer. Es hatte namenlose Angst um Sabine. Wenn ein Straßenübergang kam, kündete es der Blinden schon eine ganze Weile vorher dieses Hindernis an. Vernahm Pommerle aus der Entfernung Räderrollen, eilte es mitten auf die Straße; kam der Wagen näher, streckte es beide Arme aus, zum Zeichen, daß man vorsichtig und langsam fahren solle. Kurzum, das Kind befand sich beständig in Angst und atmete erst auf, als man das Haus des Onkels erreicht hatte.
Sabine hatte zwar mehrfach ihrer kleinen Beschützerin gesagt, daß solch übergroße Vorsicht gar nicht notwendig sei. Aber Pommerle war sich seiner Verantwortung voll bewußt. Es nahm sich auch vor, auf dem Wege durchs Hirschberger Tal die blinde Sabine treu zu behüten.
Frau Bender nahm an dem Spaziergang nicht teil. Sie hatte daheim zu tun und ließ den Gatten mit seinen drei Schützlingen allein gehen.
»Ich denke, Sabine, du nimmst meinen Arm, und die beiden anderen laufen neben uns her. Ich kann dir dann am besten die Gegend erklären und dich auf allerlei aufmerksam machen.«
»Soll sie der Jule nicht noch an die Hand nehmen?« fragte Pommerle besorgt.
Professor Bender schüttelte den Kopf. »Sabine hat ihr Spazierstöckchen mitgenommen, mit dem sieht sie.«
Pommerle sagte dazu gar nichts. Alles, was Sabine betraf, war so merkwürdig, daß an den Worten des Onkels nicht zu zweifeln war.
Hatte sich Pommerle eingebildet, daß man nur ganz langsam, Schritt für Schritt gehen werde, so irrte es sich. Der Professor schritt rüstig aus, und die blinde Sabine wanderte wacker an seiner Seite mit. Pommerle ging stets sechs Schritte vor den beiden her. Es achtete nur auf den Weg. Lag ein größerer Stein oder ein kleines Ästchen auf dem Wege, bückte es sich schnell und räumte das Hindernis fort, daß die Blinde ja nicht stolpere.
Sabine fühlte sich sehr glücklich. Wie lange hatte sie sich nach solch einer Wanderung gesehnt! Doch die Mutter war schlecht zu Fuß, und der Vater hatte bisher noch keine Zeit gehabt, seiner Tochter diese Freude zu bereiten.
»Wenn es nicht zu anstrengend ist, Sabine, gehen wir öfter einmal. Jetzt kommt freilich erst mal der Winter. Wenn dann aber die Natur wieder erwacht, geht es einmal etwas höher hinauf.«
»Ach ja, wenn der Frühling kommt, wenn alles wieder grün wird, wenn die Vöglein singen, dann wollen wir hinauf in die Berge gehen.«
Pommerle hatte diese Worte gehört. Ein Weilchen blieb das Kind still; dann schlich es an Jule heran und sagte flüsternd:
»Wenn der Frühling kommt, so sieht sie es auch, wenn es grün wird. Das sieht sie alles mit dem Herzen, weil sie dort viel Sonne hat.«
Nach einstündiger Wanderung war das bescheidene Häuschen des Harfen-Karle erreicht. Heute saß der Alte nicht vor der Hütte. Man fand ihn im Zimmer. Er war gerade damit beschäftigt, getrocknete Blätter in kleine Säckchen zu legen.
»Das ist ja ein gar lieber Besuch«, sagte der Alte. »Ei, Herr Professor, welche Freude, daß Sie auch wieder einmal zu dem Alten kommen!«
»Ich bringe Ihnen noch anderen Besuch mit, alter Freund.«
Gar schnell war man in lebhafter Unterhaltung. Pommerle rückte schon ein Weilchen ungeduldig auf dein Stuhl hin und her, so daß Professor Bender lachend sagte:
»Was ist denn mit dir, Kleines, hast wohl keine Ruhe zum Sitzen mehr?«
»Ich möchte gern auch mal mit dem Harfen-Karle reden.«
»Was willst du denn von mir wissen, kleines Mädchen?« fragte der alte Mann freundlich.
»Möchtest du mir nicht ein Lied singen?«
»Ach was, das kann ich nicht mehr recht.«
Pommerle legte bittend die Hände zusammen. »Du kannst es so gut wie kein anderer. Hast mir damals so ein schönes Lied gesungen, ich weiß es heute noch. Und dem Jule habe ich es auch gesagt. Er weiß jetzt, daß er zur Arbeit, nicht zum Müßiggang geschaffen ist. – Harfen-Karle«, Pommerle nahm den Alten am Bart und zog seinen Kopf zu sich herab, »singe der Sabine doch auch so ein hübsches Lied. Ein Lied, das sie froh und glücklich macht. – Die Sabine hat keine Augen, vor der ist es immer finster. Aber sie meint, sie kann doch sehen, weil sie sich die Sonne eingefangen hat. – Harfen-Karle, bitte, bitte, singe der Sabine ein Lied, damit sie recht froh ist.«
»Na, wenn du meinst, daß es eine Freude wird, will ich es schon tun. – Ich soll dem kleinen Pommerle ein Lied vorsingen.«
»Nein, der Sabine«, rief Pommerle lebhaft.
»Für mich ein Lied? Das wäre sehr schön, wenn es der Harfen-Karle täte«, sagte Sabine.
»Hörst du?« meinte das Kind. Dann eilte es in die Ecke und winkte dem Alten.
Lachend kam Harfen-Karle heran.
Die Augen des Alten glitten zu Sabine hinüber, die den Kopf lauschend gehoben hatte. Ein Weilchen überlegte er, dann begann er:
»Ich bin ein armes, doch frohes Blut,
Trotz meiner Leiden und Schmerzen,
Ich habe als eigen das kostbarste Gut,
Ich habe die Sonne im Herzen.
Ich sing' mit den Vöglein, daß laut es schallt,
Kann lachen, springen und scherzen,
Ich freu' mich an Wiese, Feld und Wald,
Ich habe die Sonne im Herzen.
Drum bin ich der reichste, der glücklichste Mann,