»Das erkläre ich dir unterwegs, Pommerle. Nun mache dich fertig, wir wollen gehen.«
Pommerle griff hastig in die Schürzentasche. Ein paar Bonbons kamen daraus zum Vorschein.
»Die nehme ich der blinden Sabine mit, Onkel, damit sie sich freut. Schmecken kann sie ja.«
»Ich finde, deine Bonbons sehen nicht gerade appetitlich aus, kleines Pommerle.«
»Das finde ich auch, Onkel, aber – sie sieht sie doch nicht.«
»Blinde können mit den Händen sehen.«
»Hahaha, Onkel –«
»Blinde haben solch ein feines Tastgefühl, daß sich Sabine sehr leicht eine Vorstellung machen kann, ob die Bonbons gut aussehen.«
Wieder wurde das kleine Mädchen nachdenklich. Dann sagte es ein wenig kleinlaut: »Onkel, schenkst du mir ein Stück Schokolade aus dem Kasten, wo jedes Stück so hübsch eingewickelt ist?«
»Ich denke, wir nehmen der Sabine den ganzen Karton mit.«
»Den Karton mit dem hübschen Bild darauf?«
»Ja, Pommerle, ich denke, du wirst ihn gern für Sabine hergeben.«
»Wenn sie doch das hübsche Bild auf dem Deckel nicht sehen kann, und wenn ich das hübsche Bild immerfort sehen kann? Oder – fühlt sie auch das Bild?«
»Aber, Pommerle, ich muß ja ganz neue Eigenschaften an dir entdecken. Ich dachte immer, du bist ein kleines Mädchen, das gern anderen etwas schenkt, zumal solchen, die nicht so glücklich sind wie du. Du hast zwei helle, große Augen, kannst alles sehen, und die arme Sabine ist blind. Willst du den Karton behalten, oder wollen wir ihn der Sabine schenken?«
»Der Sabine«, sagte das Kind leise.
Bald war man auf dem Wege zu Meister Reichardt. Aufmerksam hörte das kleine Mädchen den Worten des Onkels zu. Unzählige Fragen hatte es zu stellen. Es wollte Pommerle gar nicht in den Sinn, daß sich ein Blinder auch zurechtfinden könne, daß er das Lesen erlerne und Handarbeiten mache. Pommerle konnte es kaum noch erwarten, Sabine kennenzulernen; das Kind wollte die Sechzehnjährige fragen, ob sie tatsächlich alles das leisten könne, was der Onkel gesagt hatte.
Meister Reichardt stand gerade im Vorgarten seines Hauses, als Professor Bender herankam. Er fragte nach Jule und ob der Meister mit ihm zufrieden sei.
»Ich kann nicht über ihn klagen; er macht zwar manches verkehrt, ist mitunter etwas zu eifrig und verdirbt dabei allerlei. Aber er ist dann auch wieder einsichtsvoll, nimmt ruhig den Tadel hin und gibt sich Mühe.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Hinten im Hof, er schichtet Bretter auf.«
»Dann laufe rasch mal zu ihm, Pommerle.«
Das ließ sich das kleine Mädchen nicht zweimal sagen. Jule war bald gefunden, seine Augen strahlten, als er Pommerle sah.
»Bist du fleißig?«
»Komm, kannst mir etwas helfen. – Hier, faß mal mit an!«
Aber in dem Augenblick, als Pommerle das erste Brett aufhob und ein Ächzen ausstieß, weil das Brett recht schwer war, rief Jule beinahe erschrocken:
»Nee, nee, laß mal liegen, das verstehst du nicht!«
Ihm stand plötzlich ›Rübezahls Leichenstein‹ wieder vor Augen. Er glaubte nun einmal an den Berggeist. Er ließ es sich nicht nehmen, daß der alte Herr mit seinem langen Bart überall herumsaß und ihn beobachtete.
»Ich kann schon tragen«, meinte Pommerle wichtig.
»Nein, nein, das ist keine Arbeit für junge Damen, das macht nur ein Lehrling.«
»Wo ist denn die Sabine?«
»Sie ist gerade drin in der Werkstatt.«
»Was macht sie denn da?«
»Nichts. Sie ist vorhin hereingekommen, da wird sie wohl noch dort sein.«
»Kann ich sie mal sehen, Jule?«
»Komm mit!« Jule klemmte zwei Bretter unter den Arm und schritt voran in die Werkstatt. Pommerle folgte ihm zögernd.
An der Hobelbank stand ein junges Mädchen. Ein dicker, blonder Zopf war zweimal um ihren Kopf geschlungen. Pommerle blieb an der Tür stehen und rührte sich nicht, als Jule sagte:
»Fräulein Sabine, hier ist das Pommerle, von dem ich Ihnen schon erzählt habe.«
»Das Pommerle! Willkommen, kleines Pommerle!«
Sabine hatte sich umgewandt, die beiden Mädchen standen sich gegenüber. Pommerle sah die ausgestreckte Hand nicht. Das Kind starrte der Blinden ins Gesicht und stellte fest, daß Sabine zwei richtige Augen im Kopfe hatte. Genau so blaue Augen wie Pommerle.
»Willst du mir nicht die Hand geben, Pommerle?«
Noch immer schaute Pommerle in das Gesicht Sabines. Dann streckte es die Hand aus, die Sabine herzlich drückte.
»Du bist die Sabine? Vom Meister Reichardt die Sabine?«
»Ei freilich.«
Pommerle hielt den Karton mit dem Konfekt hin, wickelte rasch das Papier ab und sagte:
»Möchtest du das haben?«
»Was denn?«
»Das hier!«
»Willst du es mir nicht einmal zeigen?«
Der Onkel hatte gesagt, daß Sabine mit den Händen so gut fühlen könne, daß sie wisse, was sie bekäme. Sie reichte Sabine die Schachtel.
»Das hast du mir mitgebracht, kleines Pommerle? Sicherlich ist da etwas Gutes zum Essen darin. – Soll ich alles haben?«
»Ja, alles. Mach doch mal auf!«
Geschickt öffnete Sabine die Schachtel, fuhr mit den Fingerspitzen über den Inhalt hinweg und sagte freudig:
»Oh, welch schönes Konfekt! Ich danke dir herzlichst dafür, Pommerle.«
Das kleine Mädchen war fassungslos. So etwas hatte es noch nicht erlebt. Und als nun Sabine das Kind sogar aufforderte, es möge mit ihm hinüber in die Wohnung kommen, kannte das Staunen Pommerles keine Grenzen.
»Komm, Pommerle, ich führe dich hinüber zur Mutter. Der Vater hat jetzt zu tun.«
Die Kleine wagte kaum zu atmen. Sie sollte von Sabine geführt werden – von einer Blinden, die gar nichts sah! Willenlos ließ sich das Kind an die Hand nehmen. Immer wieder gingen die blauen Kinderaugen zu Sabines Gesicht hinauf, das froh und zufrieden aussah.
Sabine war zur Tür gegangen. Pommerles Herz schlug laut, als die Blinde vor der Schwelle stand. Jetzt mußte Sabine gleich hinfallen. Aber das junge Mädchen schritt darüber hinweg, ging an einem Stoß Bretter, der im Hofe stand, ohne Zögern vorüber und schritt ganz richtig, ohne einen Umweg zu machen, auf die Haustür zu.
»Ich denke – du bist – blind?«
»Das bin ich, Pommerle.«
»Wie siehst du denn dann, wo du gehen mußt?«
»Ich fühle es, und ich höre es.«
»Wenn ich die Augen zumache, fühle und höre ich nicht, wo ich gehen muß, dann falle ich hin.«
»Das ist eben bei uns ganz anders, kleines Pommerle.«
»Bist du nicht sehr traurig, daß du nichts sehen kannst?«
»Nein, kleines Mädchen, warum soll ich traurig sein? Ich habe so vieles, worüber ich mich freuen kann; ich bin behütet und beschützt von den Eltern, habe liebe Freunde, ich höre die Vögel singen, das Wasser rauschen. Ich kann teilhaben an allen Unterhaltungen, die die Eltern führen. Und wenn ich auch nicht zwei Augen habe wie andere Menschen, kann ich