Zögernd war Jule näher gekommen. Er warf einen besorgten Blick auf das krebsrote Pommerle und sagte leise:
»So, nun nehme ich wieder das Rad.«
Man saß auf den umherliegenden Steinen, und Professor Bender begann zu erzählen, daß eine Sage gehe, hier an dieser Stelle sei Rübezahl, der mächtige Berggeist, begraben.
Jule schüttelte unmerklich den Kopf.
»Wenn er noch gar nicht tot ist, kann er doch nicht begraben sein.«
»Rübezahl hat gesagt, er will niemals mehr die Menschen necken und ärgern, er will sich tief in die Erde verkriechen und für immer verschwinden, wenn er einmal einen Menschen träfe, der selbstlos, gütig und dankbar wäre. Kennst du die Geschichte, Jule?«
Der Knabe verneinte.
»Gut, so sollt ihr sie hören. Hier in Mariental lebte einmal ein alter Weber mit seiner Frau, die hatten nur einen Sohn, das war der Franz. Sie hatten aber eine arme Waise an Kindes Statt angenommen, ein liebes, gutes Mädchen, das den alten Leuten viel Freude machte. Nun kehrten Kummer und Not in der Familie des Webers ein, aber der Franz war ein wackerer Sohn. Er leistete Führer- und Trägerdienste. Früher waren nämlich die Wege im Riesengebirge nicht so gut wie heute, da brauchte man Leute, die Wege und Stege wiesen oder die Damen, die ins Gebirge hinauf wollten, in Sesseln trugen. Damit verdiente der Franz den Unterhalt zum Leben für sich und seine Eltern.
Aber im Winter glitt der Franz einmal aus und fiel den Berg hinab. Seit diesem Tage litt er an heftigen Brustschmerzen. Das war für die Familie ein großes Unglück, denn es fehlte der Verdiener.
Der Frühling kam, und noch immer war der Franz nicht gesund. Die Not wurde immer größer, aber wenn Franz versuchte, auch nur eine Kleinigkeit zu tragen, fing er an zu husten und brach bald ermattet zusammen.
Da war es eines Tages, im Sommer, als ein alter Führer in das Haus des Webers kam. Rösi, die Pflegetochter, trat ihm entgegen und fragte, was er wolle. Der Führer sagte, es sei ein reicher Graf mit seiner Tochter im Wirtshause angekommen, der wolle morgen früh nach dem Zackenfall hinauf, um die Sonne aufgehen zu sehen. Der Graf habe dreifache Bezahlung versprochen, wenn man seine Tochter in einem Sessel hinauftrage. Der Franz solle mit ihm kommen, denn solch eine gute Gelegenheit fände sich nicht oft.
Traurig erklärte Rösi, daß der Franz diese Arbeit nicht mehr übernehmen könne, denn er sei viel zu krank. Aber das tapfere Mädchen meinte:
›Peter, nehmt mich statt des Franz mit. Ich kann auch tragen. Wenn wir beide zusammen den Sessel mit der jungen Gräfin anfassen, ist es nicht so schwer.‹
Anfangs wehrte der alte Führer ab, aber Rösi bat ihn so herzlich, daß er nachgab.
›Ich ziehe die Kleider vom Franz an‹, sagte Rösi, ›dann merkt der Graf nicht, daß ich ein Mädchen bin.‹
Am frühen Morgen war sie pünktlich zur Stelle. Sie hatte die Kleider des Pflegebruders angezogen und sah gar schmuck darin aus. Der Peter glaubte anfangs selbst, daß es doch der Franz sei. Dann strich er dem tapferen Mädchen zärtlich über die Wange.
›Bist eine gar gute Pflegeschwester. Der Himmel wird es dir lohnen.‹
Dann wurde der Sessel für die junge Gräfin fertiggemacht, an zwei Stangen befestigt. Vorn sollte Rösi tragen, hinten der Peter.
Die Gräfin nahm Platz, dann ging es los. Bald zitterten dem guten Mädchen die Hände und Füße, das Blut pochte und klopfte ihm in den Schläfen von der großen Anstrengung.
Und als man endlich, nach einer guten Stunde, am Zackenfall ankam, war Rösi so ermattet, daß sie sich ins Moos warf. Vor ihren Augen tanzten und wirbelten die seltsamsten Gestalten. Bald war es ihr glühend heiß, dann klapperten ihr die Zähne vor Frost.
Sie erschrak, als plötzlich der Peter zu ihr kam und sagte, die Gräfin wolle noch bis zur nächsten Baude hinauf, vielleicht werde es noch gehen. Rösi nickte.
Aufs neue nahm man den Sessel und stieg bergan. Oben angekommen, fand sich ein anderer Führer, so daß man Rösi entlohnen konnte. Sie bekam noch ein besonders gutes Trinkgeld, dann wanderte sie wieder abwärts. Es war ihr aber unmöglich, Mariental zu erreichen. Hier an dieser Stelle, an der ihr jetzt steht«, sagte der Professor, »brach das junge Mädchen zusammen. Ein Blutstrom entquoll ihrem Munde – sie starb.
Aber der Berggeist hatte Rösi in all der Zeit beobachtet. Er hatte gesehen, was das junge Mädchen aus Liebe zu dem Pflegebruder leistete. Er kam dahergebraust, riß eine Wurzel aus der Erde und erweckte damit die tote Rösi. Dann hüllte er sie in seinen Mantel und trug sie ins Haus der Pflegeeltern, nachdem er vorher die Taschen des tapferen Mädchens mit Gold und Silber gefüllt hatte. Dann kehrte der mächtige Berggeist an diese Stelle hier zurück, rief seine Geister herbei und gebot ihnen, einen mächtigen Felsblock heranzuschaffen. Er werde für immer im Innern der Erde verschwinden, denn er habe erkannt, daß es noch gute und edle Menschen auf der Erde gäbe. Dann verschwand Rübezahl in der Erde, die Berggeister wälzten den mächtigen Stein auf die Stelle, der bis auf den heutigen Tag den Namen ›Rübezahls Leichenstein‹ führt.«
Zunächst sagte keiner ein Wort. Jule hatte den Kopf tief gesenkt, verstohlen schaute er auf Pommerle. Die Röte der Anstrengung war aus dem Gesicht des Kindes gewichen. Aber Jule fühlte sich trotzdem recht bedrückt. Er hatte der Spielgefährtin alle Lasten aufgeladen und war, ohne sich darum zu kümmern, nach Moosen und Steinen gelaufen. In Gedanken verglich er das Pommerle mit der tapferen Rösi. Es wäre furchtbar gewesen, wenn nun Pommerle auch vor Anstrengung gestorben wäre. Da Jule sich den Glauben an den Berggeist nicht nehmen ließ, war ihm diese Stelle, an der man gerade verweilte, recht unbehaglich. Der mächtige Rübezahl wußte alles, der hatte auch gesehen, daß das Pommerle den Strauß und das Rad bis hierher geschleppt hatte. Wenn jetzt ganz plötzlich der Felsblock zur Seite geschleudert wurde, wenn Rübezahl auftauchte und dem Jule heftige Vorwürfe machte, was dann?
»Ich denke, wir müssen nun weitergehen«, meinte Jule kleinlaut.
Professor Bender ahnte sofort, was den Knaben quälte. Er sah deutlich die Unruhe in den Augen seines Mündels.
»Nun ja«, meinte er, »wir können aufbrechen. Wir wollen ja noch ein gutes Stück weiter, und abends geht es wieder heim.«
Als Pommerle den kleinen Rucksack wieder aufschnallen wollte, nahm ihn Jule fort.
»Laß nur, ich werde ihn tragen.«
»Nein, laß nur.«
»Er ist viel zu schwer für ein kleines Mädchen.«
»Nichts da«, entschied der Professor. »Ein jeder trägt seine Last allein. Pommerles Rucksack ist ganz leicht, er macht ihm keinerlei Beschwerden.«
Nochmals warf Jule einen mißtrauischen Blick auf den großen Felsblock; doch der stand fest und rührte sich nicht. Dann griff er energisch nach dem Tannenstrauß und nach dem Rade, fragte schließlich noch Tante Bender, ob er ihr den Rucksack abnehmen sollte.
»Nein, Jule, du hast ja beide Hände voll.«
Als man aufbrach, war der Jule der erste, der den Platz verließ, auf dem »Rübezahls Leichenstein« stand. Bei der letzten Wegbiegung warf er nochmals einen Blick zurück. – Der Granitfelsen stand fest.
Je weiter man wanderte, um so lästiger wurde Jule seine Beute. Er schwankte einige Male, ob er den Tannenstrauß oder das Rad liegenlassen sollte. Vier volle Stunden rollte er es nun schon neben sich her. Gar zu gern hätte er wieder einmal bei Pommerle angefragt, aber er traute sich nicht recht. Er machte zwar mehrmals Andeutungen, daß er auch schon genau so müde sei wie die Rösi; doch Pommerle schien es nicht zu verstehen. Wenn sie ihn wenigstens für zehn Minuten ablösen wollte!
»Es macht großen Spaß, das Rad neben sich herzurollen. Findest du das nicht auch?« fragte Jule die Kleine.
»Wenn es aufwärts geht, muß man es tragen.«
»Es